Jeder Prozess hat eine politische und eine juristische Komponente. Juristisch, weil die Grundlage des Prozesses das herrschende Recht ist. Politisch, weil das herrschende Recht das Recht des Herrschenden ist.
Wir sehen aktuell in der Türkei und speziell in Bakur, dem kurdischen Teil der Türkei, was das heisst. Die Schliessung von kurdischen und linken Nachrichtenagenturen ist ein Teil der versuchten staatlichen Gleichschaltung, ein anderer die Verhaftung von gewählten BürgermeisterInnen, an deren Stelle Ankara Statthalter installieren will. Das Recht wird auf der einen Seite verwendet, um den Spielraum der Bewegung einzuschränken, auf der anderen Seite erlaubt der Staat sich selbst mittels seinem Recht alles. Was staatlicherseits in Diyarbakir, Cizre, Silopi oder Nusaybin geschah wird von keinem türkischen Gericht je aufgearbeitet werden.
Aber wir können auch in uns näher gelegenen Ländern wie Frankreich dieses Phänomen offen beobachten, wo seit bald einem Jahr mit Bezug auf den Notstand regiert wird und hochpolitische rechtliche Entscheidungen getroffen werden. Man darf die Situationen in diesen Ländern nicht gleichsetzen, es gibt sehr, sehr vieles, was sie unterscheidet. Aber man darf sie vergleichen, weil es trotz der Differenzen viele Parallelen gibt.
Das Recht ist nicht neutral. Es ist ein Ausdruck der politischen Situation eines Staates, des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses, der Auseinandersetzungen zwischen den Klassen im marxistischen Sinne. Was den einen dient, ist erlaubt, was den anderen dient, ist verboten. Das Recht beeinflusst das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen. Mit einer Aufteilung in legal oder illegal wird dem einen die Legitimität zugesprochen, der anderen die Legitimität abgesprochen.
Es ist legal, mit Immobilien zu spekulieren, denn das ist Privateigentum. Es ist illegal, eine leerstehende Immobilie zu nutzen, denn sie ist Privateigentum. Ohne Privateigentum kein Kapitalismus. Darum braucht diese Gesellschaftsform zwingend Gesetze zum Schutz des Privateigentums, aber keine Gesetze zum Recht auf Wohn- oder Lebensraum.
Es ist eine Aufteilung in erlaubt – nicht erlaubt oder gut – böse, die berechtigterweise breit kritisiert wird. Denn was ist die illegale Besetzung des leerstehenden Areals einer Heizölfirma gegen den legalen Bau einer Europaallee? Was ist die legale sogenannte Aufwertung eines Quartiers, die immer eine Verdrängung bisheriger EinwohnerInnen bedeutet, gegen die illegale Wiederaneignung des öffentlichen Raums durch unangemeldete Feste oder Demonstrationen?
Wieso fällt es den Stadtaufwertern und Stadtaufwerterinnen hier so schwer, den Schein der Legitimität ihres Tuns durch Verweis auf die Gesetzbücher zu wahren, während dies in anderen Bereichen, wo sich die Interessen einzelner denjenigen vieler gegenüberstehen, leichter fällt? Weil der Prozess der Stadtaufwertung ein Prozess ist, der sich nicht kaschieren lässt, der Dimensionen hat, die massiv sind. Es lässt sich nicht wegdiskutieren, dass sich die Stadt verändert, und es lässt sich nicht wegdiskutieren, zu wessen Gunsten sich die Stadt verändert. Es ist eine unmittelbare Erfahrung. Es braucht keine theoretischen Abstraktionen, um die Zusammenhänge zwischen einzelnen Ereignissen zu sehen. Viele sind davon betroffen, viele sind deswegen wütend.
Es gibt einen weltweiten Wettbewerb zwischen den Grossstädten darüber, wer zur «global city» wird und wer nicht. Immer mehr Menschen und Firmen drängen in die Städte, während die zur Verfügung stehende Fläche proportional viel weniger schnell anwächst. Verknappung soll die Preise heben, sagt man. Es gibt kein Interesse daran, eine Infrastruktur zu schaffen, die allen gleich dienen würde. Auch wenn dies sicher möglich wäre, wenn wir auf die ungeheuren technischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte schauen. Es würde sich schlicht nicht rentieren. Darum wird diese Entwicklung zum Nutzen von wenigen und nicht zum Nutzen von vielen eingesetzt.
Das ist ein Teil des Kontexts dieses Prozesses. Es ist ein Kontext, der an anderen Orten weit besser und vollständiger dargelegt wird. Zum Seminar über die Stadtentwicklung eignet sich diese Plattform hier nicht, auch weil ich kein Interesse daran habe, eine Diskussion mit einem Staatsanwalt und einem Richter zu führen, die meine Verurteilung fordern oder meine Verurteilung formulieren.
Der Kontext ist dennoch wichtig, weil sich so die politische Dimension dieses Prozesses aufzeigen lässt. Es ist kein Prozess, wo die Staatsanwaltschaft technisch-bürokratisch ihre Prozeduren durchläuft. Es ist ein Prozess einer politisch motivierten Staatsanwaltschaft, welche eine politisch motivierte Strafe fordert. Die ursprünglich geforderten acht Monate Haft unbedingt sind nur so zu verstehen. Es soll als Signal an die wirken, die die Stadtaufwertung von oben nicht hinnehmen. Es soll ein Signal sein, dass man sich nicht bewegen sollte. Ich finde es ein Signal, dass man sich erst recht bewegen muss.
In den Akten dieses Verfahrens gibt es nichts, wofür man sich entschuldigen müsste. Es gibt nichts, wofür man sich rechtfertigen müsste. Im Gegenteil, das einzige, was sich vorwerfen lässt, ist, dass man nicht energischer versucht, der Stadtentwicklung von oben die Stirn zu bieten. Es braucht in dieser Stadt nicht weniger Räume wie das Koch-Areal, es braucht viel mehr Räume wie das Koch-Areal. Es ist gut, dass solche Räume ein wunder Stachel im Fleisch der Stadtentwickler sind.
Die Binz-Besetzung, die hauptsächlicher Gegenstand dieses Prozesses ist, war ein ähnlicher Raum. Für eine kurze Zeit hat man diesen Raum sich wiederangeeignet und aufgezeigt, dass man auch dann Beeindruckendes schaffen kann, wenn die Motivation dahinter nicht finanzieller Natur ist. Zugleich bot die Besetzung Raum für politische Diskussionen. Es ist nur folgerichtig, dass der an dem Tag amtierende Bullenchef vom Areal weggewiesen wurde. Will man Alternativen entwickeln, dann ohne Beteiligung der politischen Repräsentanten des jetzigen Staats.
Es sind Alternativen, die man dringend entwickeln und vorantreiben muss. Die Barbarei des Kapitalismus und Imperialismus schlägt uns tagtäglich entgegen. Wenn wir heute hier vom Phänomen der Stadtentwicklung reden, dann befinden wir uns in einer sehr privilegierten Position, wenn wir unsere Situation mit derjenigen von denen vergleichen, die in anderen Weltgegenden für eine fortschrittliche Zukunft kämpfen. Das darf uns nicht dazu bringen, die Bedeutung der politischen Arbeit hier im Vergleich zur Arbeit dort geringzuschätzen. Die Position, man müsse hier nicht kämpfen, weil es uns so gut geht, versucht den Fakt zu verschleiern, dass es uns gut geht, weil es anderen schlecht geht. Die strukturellen Ursachen sind hier wie dort ähnlich und vor allem miteinander verbunden. Wenn hier eine rassistische Hetze geschürt wird, führt das zum Massenmord im Mittelmeer. Wenn hier zur Sicherung der Arbeitsplätze die Ausfuhrbestimmungen von Rüstungsgütern weiter gelockert werden, führt das zur Aufrüstung jihadistischer Gruppen via ihren staatlichen Unterstützern der Türkei, Qatar oder Saudi-Arabien. Wenn Gemeinden hier ihre Steuern senken, weil sich unter ihren Neuzuzügern CEO’s von Rohstoffgiganten befinden, die ihre Milliarden-Einkommen hier deklarieren, dann, weil diese Giganten an anderen Orten dieser Welt für unheimliches Leid verantwortlich sind.
Diese Vorgänge haben System, das System heisst Kapitalismus. Dagegen gilt es zu kämpfen. Gestern, heute, morgen.