Was sich lange abzeichnete, hat nun begonnen: Nachdem die Türkei im Frühjahr 2018 den Kanton Afrin im Westen Rojavas angriff und besetzte, folgt nun der militärische Schlag gegen den östlichen Teil Rojavas. Damals gab Russland das grüne Licht für den türkischen Angriffskrieg, heute sind es die USA, welche ihrem NATO-Partner den Weg freigemacht haben. Damals wie heute wurden die Truppen dieser sogenannten „Schutzmächte“ von der Grenze zurückgezogen, damit sie im Artilleriefeuer der türkischen Armee keinen Schaden nehmen können, damals wie heute öffneten die Partner der Türkei ihnen den Luftraum für Überwachungsflüge und Luftschläge, damals wie heute wissen alle sehr genau, dass die Bodentruppen der Türkei aus islamistischen Milizen zusammengesetzt sind, die sich ideologisch nur in Nuancen vom sogenannten „Islamischen Staat“ unterscheiden.
Dieser Angriff gegen Rojava erstaunt uns nicht. Einerseits, weil Rojava ein hoffnungsvolles linkes Projekt ist, welches auf verschiedensten Ebenen einen konkreten Gegenvorschlag zur kapitalistischen Barbarei und Misere bildet. Die Frauenorganisierung, die gleichberechtigte Beteiligung der verschiedensten Ethnien, die ökologischen Perspektiven, die selbstbewusste bewaffnete Selbstverteidigung getragen durch die Bevölkerung – all das stellt fundamental die Interessen und Herrschaftsvorstellungen der Türkei, der USA oder Russlands in Frage. Schon früh war klar, dass die Akteure, welche nun das grüne Licht zu diesem Angriff gegeben haben, niemals strategische Partner Rojavas sein können. Zu unterschiedlich sind die langfristigen Perspektiven. Hier revolutionärer Prozess, dort kapitalistische und imperialistische Barbarei.
Andererseits erstaunt uns der Angriff nicht, weil Syrien Brennpunkt eines imperialistischen Kriegs ist, wo sich die Herrschenden verschiedenster Länder auf engstem Raum um die Neuaufteilung von Einflusszonen und Ressourcen bekämpfen. Das ist seit Jahren so. Nicht umsonst sprechen die kurdischen Kräfte oftmals von einem Dritten Weltkrieg, der dort stattfinde. Mit diesem Angriff zeichnet sich nicht etwa eine Beruhigung dieser Situation ab, sondern eine weitergehende und brandgefährliche Eskalation. Entsprechend die ersten zaghaften kritischen Reaktionen anderer NATO- oder EU-Staaten auf diesen Angriff. Sie wissen sehr wohl, dass dort damit perspektivisch ihre Machtposition geschwächt wird und sie dadurch den Kapriolen Erdogans, Putins oder Assads verstärkt ausgesetzt sein werden.
Wohlgemerkt: Wenn die Regierungen der Schweiz, Deutschlands oder Frankreichs jetzt moralisch aufzutrumpfen versuchen und leise Worte des Widerspruchs äussern, dann versuchen sie zeitgleich zu kaschieren, dass sie jahrzehntelang diesen strategischen NATO- und EU-Partner aufgebaut und aufgerüstet haben. Dass sie jahrzehntelang von der verhältnismässigen Verlässlichkeit der Türkei profitiert haben, wenn es um ihre jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Interessen ging. Kurz, dass sie letztlich Teil derselben Misere sind, welche sich nun in diesem Krieg ausdrückt, und mitverantwortlich dafür sind, dass er überhaupt stattfindet.
Jahrzehntelang war die Türkei hofierter Partner der jetzt entrüsteten Regierungen. Und sie wird weiter Partner bleiben, denn die ökonomischen und geostrategischen Verschränkungen sind zu gross, als dass man nun alles über Bord werfen würde. Wir wissen alle, dass es auch Schweizer Banken wie die Credit Suisse sind, welche über Investitionen in Rüstungsfirmen davon profitieren, wenn die türkische Luftwaffe sich neue Jets zulegt mit denen sie nun Rojava bombardieren. Wir wissen, dass es Rüstungsfirmen wie die RUAG oder Rheinmetall gibt, welche sich an der militärischen Aufrüstung der Türkei direkt beteiligen. Wir wissen von Firmen wie der Andritz Hydro und anderen, die in den riesigen Infrastrukturprojekten der türkischen Regierung gut bezahltes Knowhow liefern. Wir wissen schliesslich auch, wie dankbar diese nun moralisch empörten Regierungen waren, als Erdogan für Milliarden Euros zusagte, Türsteher am Bosporus zu spielen, damit die Flüchtlingsströme in Richtung Europa abnahmen.
Aber: Diese internationalen Verbindungen der Politik und Wirtschaft untereinander sind zugleich Punkte, an denen die Solidarität mit Rojava jetzt ansetzen kann. Wir wissen um die zahlreichen Mitverantwortlichen und Profiteure dieses Angriffs, die hier in der Schweiz Produktionsstätten oder Büros haben. Es gilt ihnen allen klarzumachen, dass es einen Preis zu zahlen gibt, wenn Rojava angegriffen wird. Heute gilt es, den Genossen und Genossinnen, den Freundinnen und Freunden vor Ort zu zeigen, dass weltweit viele solidarisch Schulter an Schulter mit ihnen gegen diesen Angriff stehen. Es gilt in den kommenden Wochen Öffentlichkeit zu schaffen für die Kriegsrealität vor Ort – es gibt in diesem Moment kein Wegschauen oder Sich-aus-der-Verantwortung-Stehlen. Und es gilt schliesslich, Druck aufzubauen für Rojava, sei es auf der Strasse oder sonst wo. Die kurdische Jugend erklärt dazu ganz richtig aus den Kandil-Bergen, dass der gleichzeitige und breite Beginn von Serhildan – Aufruhr – dem angreifenden Feind den grössten Schlag versetzen kann. Wir werden dafür einen langen Atem brauchen.
Hoch die internationale Solidarität!
Schulter an Schulter gegen den Faschismus!
Weitere Informationen zur Situation in und um Rojava gibt es laufend bei der kurdischen Nachrichtenagentur Firatnews anfdeutsch.com, beim kurdischen Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit Civaka Azad civaka-azad.org, auf der Homepage der internationalen Kommune in Rojava internationalistcommune.com oder unter #riseup4rojava und #fight4rojava. Informationen zu anstehenden Mobilisierungen in der Schweiz gibt es auf dem Blog des Rojava-Komitees Zürich rojavaagenda.noblogs.org, im Telegramchannel t.me/rojavaagenda oder auf Twitter twitter.com/AgendaRojka.