Die Pandemie als Krise des Kapitalismus
Mit der COVID-19-Pandemie stürzt der Kapitalismus in den Wirtschaftsmetropolen in eine neue Krise. Das Virus mag sich nicht darum scheren, ob es auf reiche oder arme Menschen trifft. Allerdings trifft es auf ein System, in der sich diese Frage tagtäglich stellt, beispielsweise wer welchen Zugang zu Gesundheit hat, wer vom System als schützenswert und relevant betrachtet wird und wer in der folgenden Krise wie abgesichert werden wird. Und so offen demaskiert sich das System selten als Klassengesellschaft und ein Kapitalismus, in dem Profite über allem stehen.
Und dieses System, auf welches das Virus in den letzten Monaten getroffen ist, war alles andere als stabil, sondern eine kriselnde kapitalistische Weltgesellschaft. Die Pandemie beschleunigt die schon lange angelegte ökonomische und politische Krisen- und Kriegstendenz. Sie wirkt wie Benzinfür die ökonomische Kapitalüberproduktionskrise, für die globalen imperialistischen Macht- und Ausbeutungsverhältnisse und für die Legimitationskrise der demokratische-bürgerlichen Herrschaftsform.
Was wir aktuell erleben, ist also eine massive Zuspitzung der Widersprüche des Kapitalismus. Ökonomische und politische Prozesse, die sich zuvor oft „hinter unserem Rücken“ vollzogen haben, brechen sich jetzt mit verheerenden Konsequenzen Bahn und treten mit aller Wucht offen ins Bewusstsein vieler. Die gesundheitliche, ökonomische und politische Krise verändert den Alltag aller. Und in dieser krisenhaften Veränderung wird für viele unmittelbar subjektiv erfahrbar, welche Zerstörungskraft dem Kapitalismus innewohnt.
Es sind solche historischen Situationen, welche gesellschaftliche Kräfteverhältnisse drastisch verändern können, welche Entwicklungen in Richtung von Sozialismus oder von Barbarei anstossen können. Eine revolutionäre Linke muss dabei ein Teil der Lösung werden und versuchen, diese Kräfteverhältnisse zu beeinflussen.
Auch wenn sich die Situation laufend ändert, wollen wir einige Punkte festhalten.
Die Pandemie und die Krise haben einen Klassencharakter
Zeit seines Bestehens nutzte der Kapitalismus Krisen immer für die Optimierung seiner Funktionsweise. Schocktherapien, Strukturanpassungsprogramme und Umwälzungen in der Produktionsordnung begleiteten alle grösseren Krisen der vergangenen Jahrzehnte. Wenn der Staat aktuell auch mit der Situation überfordert ist, so hat die aktuelle Krise – wie alle Krisen zuvor – einen Klassencharakter. Einige wenige Unternehmen werden als ProfiteurInnen aus der Krise hervorgehen und die Herrschenden werden die Gunst der Stunde zum weiteren Abbau von Arbeitsrecht und sozialer Sicherheit nutzen.
Wie einfach sich mit Notfallplänen bestimmte Errungenschaften oder Schutzmechanismen für die ArbeiterInnenklasse umgehen lassen – ohne dass Widerstand dagegen möglich wäre –, zeigt der Blick nach Norden. Bayern hat in den letzten Tagen wie die Schweiz seine Massnahmen gegen die Pandemie verschärft. Unter anderem will man beispielsweise die Ladenöffnungszeiten über das bisherige Ladenschlussgesetz öffnen. Die Idee dahinter: Der Markt und nicht der Staat soll die Versorgung sicherstellen. Dies geht zu Lasten der VerkäuferInnen, die zu Überstunden gezwungen werden können, und dies nicht nur in Bayern. In der Schweiz beispielsweise drohte der Lebensmittelhändler Coop seinen Angestellten mit Entlassungen, sollten sie aufgrund neuer Betreuungsaufgaben zuhause bleiben.
Es liegt nahe, dass solche Massnahmen langfristig normalisiert werden. Wir müssen damit rechnen, dass viele betriebliche Massnahmen, die jetzt durchgesetzt werden, nach der Krise bestehen bleiben. Selten zuvor konnten beispielsweise neue Arbeitsformen wie Home Office oder Digitalisierung der Bildung derart flächendeckend durchgesetzt werden. Und kurzfristiger Stellenabbau lässt sich in einer Krise besser begründen. Massnahmen, die aktuell aus medizinischen Überlegungen wichtig und sinnvoll sind, werden sich nach der Krise für das Kapital als lukrativ herausstellen. Damit haben die staatlichen und betrieblichen Eingriffe einen Klassencharakter. Sie verändern die Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit zugunsten von Ersterem, indem sie diejenige Digitalisierungs-, Rationalisierungs- und Flexibilisierungswelle beschleunigt, welche bisher noch nicht gegen die Lohnabhängigen durchgesetzt werden konnte.
Vereinfacht gesagt: Die Krise und die staatlichen Eingriffe tragen einen deutlichen Klassencharakter, sichtbar beispielsweise dort, wo man um die Produktion und den Profit mehr besorgt ist als um Menschenleben. Der Klassencharakter wird sich ebenfalls in der längerfristigen Frage zeigen, wie mit der Krise und den darin gemachten Krisenerfahrung umgegangen wird.
Der drohende Zusammenbruch des Gesundheitswesens als Resultat der Sparpolitik
Schweizer Spitäler reagieren auf die gegenwärtige Pandemie unter anderem, indem sie (teilweise bezahlte) Freiwillige suchen. Dass sich viele Menschen melden und das Pflegepersonal unterstützen wollen, ist Ausdruck jener positiven Seite, die sich in fast allen Krisen offenbart. Menschen reagieren solidarisch auf Notfälle, unterstützen sich gegenseitig und organisieren sich selbst. Im Falle der Spitäler bleibt jedoch ein schaler Beigeschmack: Natürlich braucht es gegenwärtig mehr Personal als sonst. Doch nach jahrzehntelangen Sparmassnahmen fehlt das Personal nicht nur in Notsituationen. Das lässt sich nicht durch freiwillige Arbeit wegmachen, so solidarisch diese gegenwärtig sein kann.
Das Verheerende an der globalen COVID-19-Pandemie ist weniger das Virus, sondern das über Jahrzehnte privatisierte und kaputtgesparte Gesundheitswesen. Viren haben keine statische Todesrate. Sie sind zwar unterschiedlich gefährlich für die Menschen, die Gefahr, die von ihnen ausgeht, hängt allerdings wesentlich vom Zugang zum Gesundheitsangebot und von dessen Beschaffenheit ab. Der Zugang ist in der Klassengesellschaft natürlich unterschiedlich verteilt. Wir dürfen annehmen, dass die Bourgeoisie bei aller Panik ihre Haut zu retten weiss. Und die Beschaffenheit der Gesundheitsangebote ist heute – nach Jahren der Sparmassnahmen und Privatisierungen – weltweit katastrophal. In den USA beispielsweise brauchte es erst grossen Druck von unten, damit Menschen sich nicht verschulden, nur weil sie einen COVID-Test machen wollen. Die englische Regierung plant gegenwärtig für 2.4 Millionen Pfund pro Tag 8‘000 Betten von privaten Spitälern zu mieten, weil das staatliche Versorgungssystem nicht ausreicht. Und überall auf dieser Welt steht das Gesundheitswesen vor Problemen, weil man in der Just-in-time-Lagerhaltung keinen genügend grossen Vorrat an Versorgungs- und Schutzmitteln angehäuft hat. Es ist bekannt, und kann doch heute mehr denn je betont werden: Kapitalismus interessiert sich nicht für unsere Gesundheit, sondern nur für den Profit!
Keine Abwälzung der Krise auf unsere Schultern
Die staatlichen Massnahmen verschärfen sich von Tag zu Tag. Und sie offenbaren, wie sich die Schweizerische Bourgeoisie in den letzten Jahrzehnten erfolgreich gewappnet hat, die Krisenlast auf das Proletariat abzuwälzen. Mit der Kurzarbeit wird das Risiko vom Kapital auf die öffentliche Kasse und die Lohnabhängigen abgewälzt. Mit flexibilisierten und deregulierten Arbeitsverträgen können sich die Unternehmen aktuell der Arbeitskräfte entledigen und nach der Krise wieder auf sie zugreifen ohne jegliche Absicherung zu gewährleisten.
Die letzten Wochen haben gezeigt, dass es dem Staat vor allem darum geht, die Arbeitskräfte und nicht die Menschen gesund zu halten. Die staatlichen Interventionen wägen bezeichnenderweise ständig zwischen der Gefahr um Menschenleben und dem Wohl des Wirtschafts-‚Lebens’ ab. Und bisher gelten die Beschränkungen des öffentlichen Lebens für viele ökonomische Produktionsstandorte nicht.
Nicht zuletzt dies macht deutlich, dass staatliche Anordnungen sich nicht einfach an unserem Wohl orientieren und dass es im Kapitalismus kein „allgemeines Wohl“ gibt. Was für den Staat zählt, ist das Wohl des Kapitals. Für dieses Wohl wird die Krise früher oder später auf unsere Schultern abgewälzt werden. Bereits angesichts der aktuellen Entwicklung der Reihenfolgen der Massnahmen kann hervorgehoben werden, dass der Druck vor allem auf die unteren Schichten des Proletariats und auf die Sorge-Arbeits-Bereiche abgewälzt wird. Dies wird sich in den kommenden Monaten verschärfen. Für den Kapitalismus gilt in dieser Zeit, was er seit jeher zu seinem Krisenmechanismus erkoren hat: Gewinne werden privatisiert, während Verluste sozialisiert werden.
Es ist umso wichtiger, dass die aktuellen Versuche der Bourgeoisie, die Kosten zu sozialisieren, aus einer klassenkämpferischen Position analysiert und bekämpft werden. Für eine schnelle finanzielle Entlastung und Unterstützung des Proletariats wird jetzt die öffentliche Hand bemüht. Aber eine kommunistische Position muss darum ringen, diese Kosten auf das Kapital abzuwälzen. Forderungen wie ein Krisenfonds der UNIA oder des Bedingungslosen Grundeinkommens können nicht ohne den Verweis gestellt werden, dass die KapitalistInnen für diese Krise zahlen sollen.
Gegen reaktionäre Bestrebungen
Wir müssen solidarisch sein, uns organisieren und zugleich aufpassen, dass wir nicht in den staatlichen Krisen-Diskurs fallen. Früher oder später werden die reaktionären Bewegungen die Pandemie für sich nutzen wollen. Einschneidende Krisenprogramme werden durch den globalen Charakter der Pandemie legitimiert werden und irgendwann werden Unternehmen auf die Idee kommen, freiwilligen Lohnverzicht einzufordern. Man wird uns weis machen wollen, zuallererst auf unser eigenes Land zu schauen. Und wer sich nicht daran hält, wird individuell verantwortlich gemacht werden.
Im Keim zeigt sich dieser falsche Umgang mit individueller Schuld und kollektiver Verantwortung bereits im Umgang mit der drohenden Ansteckungsgefahr. Statt die fehlenden Gesundheitsvorkehrungen oder die gesundheitlichen Gefahren in der Produktion zu denunzieren, hat man sich in der medialen Schuldzuweisung seit Beginn weg auf das Individuum konzentriert. Medien und verschiedenste private Kampagnen warnen davor, das Haus zu verlassen, weil man dadurch Menschen gefährde. Den Ansporn, in einer Krisensituation das bestmögliche Verhalten zu forcieren, ist sicher richtig. Doch am Ende ist es nicht nur das individuelle Verhalten, das grossflächig über Tod und Leben entscheiden wird, sondern vor allem der möglichst freie Zugang zu Gesundheitseinrichtungen.
Je stärker die Folgen der Wirtschaftskrise als reine Folge eines Virus deklariert werden, umso eher kann den Übertragenden auch die Schuld zugeschoben werden. Hinzu kommt, dass ein Diskurs (und staatliche Praxen), welcher Pandemie als etwas behandelt, das klassenunabhängig alle gleich trifft, gleichzeitig aber territorial „ferngehalten“ werden kann, reaktionäre Krisenlösungsangebote bestärkt. Umso wichtiger ist es, die aktuellen Krisenfolgen zu politisieren, in ihrer ökonomischen Konsequenz zu analysieren und als Auslöser nicht primär die Pandemie zu sehen, sondern das gegebene Wirtschaftssystem. Und hier braucht es zwingend Alternativen. Denn es ist kein Naturgesetz, dass die Welt, die ständig mehr produziert als sie konsumieren kann, nicht einen Monat Produktionsausfall überstehen könnte, ohne in eine grosse Krise zu rutschen.
Gegen falsche Schuldzuweisungen! Solidarität statt Vereinzelung
Jede Krise kennt nicht nur Tragödien, sondern auch schöne Momente. Dies zeigt sich heute in der breiten Solidarisierung der Bevölkerung mit Schwächeren. Es bilden sich in Siedlungen und Quartieren selbstorganisierte Solidaritätsstrukturen, um Risikopersonen zu schützen. Diese Reaktion ist also nicht primär eine individualisierende („JedeR kämpft für sich“), sondern eine kollektive. Sie entspringt nicht der staatlichen Schutzanordnung an ihre „BürgerInnen“ und Arbeitskräfte, sondern einem Bewusstsein der ganz konkreten Solidarität. Die bürgerliche Ideologie adressiert uns als einzelne Individuen, statt als Kollektive. Das hat für die Solidarität eine ähnlich zersetzende Wirkung, wie Repression gegen einzelne. Wir müssen die solidarische Kultur gerade in solchen Situationen unterstützen: Wenn jemand krank wird, helfen wir uns gegenseitig. Wir lassen niemanden alleine. Wir isolieren uns nicht zuhause, wir ziehen uns nicht in die Privatheit zurück und versuchen Probleme nicht einzeln zu lösen. Wir müssen gegen solche Isolations- und Vereinzelungstendenzen auch politisch ankämpfen, weil sie die Belastungen und den Druck der Krise dann nach innen in den alltäglichen Nahraum – und unter patriarchalen Strukturen gegen die Frauen – richten. Deshalb bekommt in dieser Situation auch der Frauenkampf gegen die verschärfte häusliche Gewalt eine besondere Wichtigkeit.
Aber es ist auch politisch wichtig, weil wir in den kommenden Wochen und Monaten zunehmend Druck aufbauen müssen, der nicht einfach in den eigenen vier Wänden organisiert werden kann. Will man die Angriffe von Oben abwehren, insbesondere dort, wo es sich gegenwärtig wie in den Camps in Griechenland zuspitzt, dann müssen wir Wege finden, in der aktuellen Situation angemessen kollektiv einen Druck von unten auszuüben. Die Demonstrationen rund um den 8. März waren beispielsweise angesichts der damaligen Situation richtige Antworten auf die staatlichen Massnahmen. Es muss das Ziel sein, auch in Zukunft vergleichbare Antworten zu finden, sich und andere schützend aber konfrontativ politisch zu organisieren.
Auf Krisen folgen Kämpfe – seien wir schon jetzt bereit
Wenn der Kapitalismus auf eine Krise in neuer Form trifft, soll uns das weder in Fatalismus noch in klammheimliche Freude versetzen. Es wäre falsch, darauf zu hoffen, dass sich die Wut der Menschen automatisch in Widerstand verwandeln wird. Lethargie oder reaktionäre Tendenzen sind ebenso wahrscheinliche Antworten auf die gegenwärtige Situation. Umso wichtiger ist es deshalb, die jetzt verschärft zu tage tretenden Widersprüche für unsere Seite zu nutzen und die subjektive Seite weiter kämpfend aufzubauen
Dazu werden sich praktische Ansätze entwickeln und es werden sich in den kommenden Monaten auch progressive Kampfzyklen ergeben. In einigen Teilen dieser Welt wie auch bei uns wird man sich weigern, die Kosten der systematischen Katastrophen weiterhin zu sozialisieren, während die Gewinne privatisiert werden. In Italien und im Baskenland wurden schon erste Fabriken bestreikt. Diese Initiativen gilt es aufzunehmen, zu stärken und angemessene Formen der Solidarität zu finden, unabhängig davon, ob der Staat seine Massnahmen weiterhin über einen Ausnahmezustand verkaufen will.
Wir sind heute aber vor allem in einer gesellschaftlichen Situation, in welcher sich die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus offenbart und in der die Frage um gesellschaftliche Alternativen forciert werden kann. Unser grösstes Problem ist nicht das Virus, sondern der Kapitalismus, der uns nachhaltig gefährdet. Ihn abzuschaffen, darauf zielen wir auch in der gegenwärtigen Krise. Denn nur das wird uns nachhaltig schützen und ein gutes Leben sichern.
Der Kapitalismus hat keine Fehler, er ist der Fehler!
Für den Kommunismus