Mit der Ausbreitung des Coronavirus scheinen die Herrschenden den Begriff der Solidarität für sich entdeckt zu haben. Wie verlogen diese inszenierte Solidarität ist, zeigt ein Erlebnisbericht von Europas Aussengrenze, wo tausende von geflüchteten Menschen vor der Verelendung stehen.
(agafz) Das Wort Solidarität ist momentan in aller Munde und sogar in der bürgerlichen Presse ein Kassenschlager. In Zeiten des Coronavirus herrscht vom Bundesrat bis zur NZZ Einigkeit: Generationsübergreifende Hilfe ist nebst den ganzen freiwilligen Einschränkungen gelebte Solidarität. Diese Form von Solidarität ist notwendig und entstand vielerorts spontan, sie ist ein echter Kern solidarischer Selbstorganisierung. Diese Solidarität wird aber von oben instrumentalisiert und nimmt einen individualisierenden und moralisierenden Charakter an. Der öffentliche Fokus auf das individuelle Verhalten hat eine ideologisch legitimierende Funktion für die bestehende Gesellschaftsordnung, indem er die Verantwortung systemischer Akteure und Mechanismen ausblendet. So nimmt der Begriff der Solidarität einen strategischen Charakter an: Je mehr es gelingt die Bevölkerung zu disziplinieren, desto weniger müssen für die Wirtschaft einschneidende Massnahmen getroffen werden. Je mehr die Konsequenzen auf das Individuelle Handeln zurückgeführt werden, desto besser gelingt es dem System seine Legitimität zu retten.
Diesbezüglich ist es als Linke einerseits wichtig, diesen realen Solidaritätselan zu unterstützen und Teil davon zu sein. Gleichzeitig muss aber gesagt werden, dass es nicht erst seit dieser Pandemie Gründe gibt, weshalb wir uns solidarisch verhalten sollen. Das wird auch nicht mit der Entspannung der gesundheitlichen Lage vorbei sein. Für den entlassenen Maurer, die Ärztin im Burnout, die Geflüchteten in Notunterkünften, die Obdachlosen auf der Strasse, die Frauen welche von häuslicher Gewalt betroffen sind und viele andere ist Solidarität die Grundlage für das kollektive Handeln, für Widerstand. Somit ist unser Begriff der Solidarität ein politischer: Solidarität ist nicht nur gegenseitiges Mitempfinden und Hilfe, sondern eine Waffe im Kampf für eine gerechtere Welt. Im aktuellen internationalen Kriegskontext heisst das zum einen, die praktische Solidarität mit Geflüchteten zu organisieren sowie Rassismus zu bekämpfen, aber auch dem Krieg kein ruhiges Hinterland zu lassen und auf die hiesigen Verantwortlichen Druck aufzubauen.
So macht die EU beispielsweise ihre Grenzen dicht während sie gleichzeitig an internationale Solidarität im Kampf gegen die Pandemie appelliert. Dazu hat sie, als vor ein paar Wochen die Situation an der griechisch-türkischen Grenze eskalierte, ihre vollkommene Unterstützung für die menschenverachtende Grenzpolitik der griechischen Regierung erklärt und sich um die Rettung des dreckigen Flüchtlingsdeals mit der faschistischen Regierung Erdogans bemüht. Was diese Tatsachen, zusammen mit den Entwicklungen seit dem letzten Regierungswechsel in Griechenland sowie der drohenden Gesundheitskrise bedeuten, wollen wir mit einem Aktivisten und einer Aktivistin eruieren, welche in diesem Frühjahr nach Griechenland reisten.
Mögt ihr etwas zu eurer Reise nach Griechenland erzählen?
Wir waren in den ersten Wochen des aktuellen Jahres, also noch kurz vor der Corona-Krise, an der griechischen Küste. Es war das Ziel mit unserer «Küche auf Rädern» mit Geflüchteten zu kochen und damit praktische Solidarität zu zeigen. Seit Erdogan als Druckmittel auf die EU die türkischen Grenzen geöffnet hat, haben viele Geflüchtete ihre Reise nach Mitteleuropa fortgesetzt. Sowohl auf dem Land-, als auch auf dem Seeweg. Teilweise wurden die Menschen auch mit Gewalt über die Türkische Grenze getrieben, nur um in Griechenland neue Gewalt zu erfahren und doch nicht willkommen zu sein. Viele Geflüchtete sind aktuell auf den Inseln Samos und Lesbos, aber auch auf dem Festland in Camps gestrandet. Mit unserer Küche und teilweise zusammen mit Aktivistinnen und Aktivisten eines Kino auf Rädern waren wir an verschiedenen Schauplätzen präsent.
Wie habt ihr die Situation vor Ort erlebt?
Seit dem Jahr 2016, als wir das letzte Mal in Griechenland waren, hat sich die Situation dramatisch verändert. Der Regierungswechsel letzten Sommer hin zu einer rechten Regierungskoalition um Mitsotakis Nea Dimokratia hat dazu geführt, dass deutlich härter gegen Geflüchtete vorgegangen wird. Man will mit den MigrantInnen aufräumen, vor allem auf den griechischen Inseln. Dort wo vorher die verschiedenen Hilfsprojekte eher wilkommen waren (auch weil sie eigentlich staatliche Aufgaben gratis übernahmen), gilt jetzt Nulltoleranz. Grosse Internierungsknäste sollen gebaut werden, um die Lager zu ersetzen und den Solidaritätsprojekten wird mit deutlich mehr Repression begegnet. Es können sich nur noch grosse NGOs die neuen erschwerten Bewilligungsprozedere leisten, die mit vielen einschränkenden Auflagen einhergehen. Selbstorganisierte Projekte von unten haben keine Chance mehr. Somit hat sich die Dichte an Hilfsangeboten bei den Flüchtlingscamps deutlich ausgedünnt.
Da wir uns aufgrund der Berichte wenig Chancen ausrechneten, auf den Inseln aktiv werden zu können, haben wir zuerst eine Gassenküche für Migrantinnen und Migranten in Thessaloniki unterstützt sowie weitere Projekte auf dem Festland. Später wollten wir trotzdem noch, als Touristen getarnt, einen Augenschein auf der Insel Samos nehmen, zumindest um die Zustände dokumentieren zu können. Wir wurden gleich bei der Einreise von zivilen Bullen bis auf die Unterhosen kontrolliert. Die Devise ist klar: Solidarität mit Geflüchteten ist unerwünscht. Die Inseln Lesbos und Samos, wo aktuell viele Geflüchtete gestrandet sind und in Camps festsitzen, befinden sich quasi in einem Belagerungszustand des griechischen Polizei- und Militärapparates. Ebenso tummeln sich Kräfte von Frontex.
Wie verhält sich die Bevölkerung auf den Inseln?
Mit der Prekarisierung der Lage in den Flüchtlingslagern verschlechtert sich zugleich das Verhältnis zu der lokalen Bevölkerung. Die Leute auf der Insel haben einen erhöhten Leidensdruck. Dies ist subjektiv sicher auch verständlich: Touristen bleiben aus, im Winter wird in Autos eingebrochen, um sich vor der Kälte zu schützen, es entstehen Camps in Olivenhainen, diese werden für Brennholz abgeholzt, etc… Insgesamt herrscht aktuell eine angespannte Stimmung, Solidarität der Inselbevölkerung mit Migrantinnen und Migranten ist weniger zu spüren als noch 2016. Dies hat zumindest teilweise auch mit dem Klima der Einschüchterung zu tun, welche gegen lokale Aktivistinnen und Aktivisten betrieben wird. Einschüchterung in der Nachbarschaft, von den Repressionsorganen, aber auch von faschistischen Strukturen. Viele von denen, die solidarisch geblieben sind, haben Angst.
Die Stimmung hat sich seit dem Beginn des Jahres noch weiter verschärft. Aktuell hat der Staat auf Samos Land enteignet, um darauf ein Knast für die Geflüchteten zu bauen. Dagegen formierte sich Widerstand sowohl aus rechtem wie auch aus gewerkschaftlichem Lager, und die lokalen Behörden würden gerne das Problem auf das Festland verlagern. Zusätzlich gab es noch Demonstrationen von Geflüchteten, die gegen ihre Situation protestierten. In Lesbos sieht es noch schlimmer aus. Vor diesem angespannten Hintergrund kam der Entscheid der türkischen Regierung, die Grenze nach Griechenland aufzumachen.
Was passierte da, und wie haben sich faschistische Strukturen verhalten?
Seit sowohl der Staat als auch die lokalen Behörden die Solidaritätsprojekte, welche die Lage erträglich machten, niederschlug, verschlechterte sich die allgemeine Situation auf den Inseln. Dennoch ist der Staat zu schwach, um seine repressive Lösung umzusetzen, also Internierung und dann Umverteilung oder Deportierung. Somit kam es in einer schon zugespitzten Situation mit der Ankündigung Erdogans zu einer Explosion. Faschistische Strukturen haben auf Lesbos zeitlich Machtansprüche umgesetzt. Sie errichteten Checkpoints auf den Strassen und führten pogromartige Übergriffe durch: Geflüchtete, welche auf Booten ankamen, wurden attackiert und ihnen den Weg retour aufs Meer gewiesen, Journalisten wurden angegriffen und Hilfskräfte der NGOs wurden verprügelt. Es gab sogar einen Brandanschlag auf Infrastruktur von Hilfsorganisationen.
Mit dem aktuell grassierenden Coronavirus hat sich die Situation wohl nochmals verändert und verschärft. Die Faschisten, die vom Festland oder Ausland anreisten, sind zwar vermehrt wieder abgezogen, die Situation in den Flüchtlingscamps wurde aber nochmals prekärer: Auf Videoberichten sieht man nicht funktionierende Wasseranschlüsse und leere Seifenspender. Die geschlossenen Grenzen in ganz Europa behindern das Weiterreisen. Viele Menschen sitzen irgendwo im Niemandsland fest.
aus: aufbau 101