Ganz Europa in der Krise

Die COVID-19-Pandemie ist auch eine Krise des Kapitalismus. Wie wirkt sie sich in den verschiedenen Ländern Europas aus? Revolutionäre Aktivisten aus Deutschland, Frankreich, Italien und Belgien geben Einblick in ihre Analysen.

(gpw) Weder die KapitalistInnen noch die ArbeiterInnen hätten sich vor wenigen Monaten vorstellen können, dass ein kleiner Krankheitserreger die globale Gesellschaft derart ins Chaos stürzen würde. Der Umgang der einzelnen Länder mit der Corona-Krise erhellt, dass im Kapitalismus ein solidarischer Umgang mit den Auswirkungen der Pandemie nicht denkbar ist und sich die Widersprüche zwischen den Klassen weiter vertiefen. Der Virus mag jeden Menschen infiszieren, die Auswirkungen und die noch nicht absehbaren Langzeitfolgen treffen die Klassen unterschiedlich. Die Pandemie verstärkt existierende Probleme, welche zuvor weniger sichtbar waren. Die Krise zeigt zudem, dass die nun als «systemrelevanten» Berufe bezeichneten Jobs nicht von der hochbezahlten Bourgeoisie ausgeübt werden, sondern von Menschen im Gesundheits- und Sozialwesen sowie im Verkauf oder der Industrie, die den Spardruck in den letzten Jahren stark zu spüren bekommen oder immer schon zum Niedriglohnsektor gehört haben.

Protektionismus und Kontrolle statt Globalisierung

Gewisse Massnahmen, wie das «Social Distancing» wurden in allen Ländern eingeführt. Schulen und Einrichtungen wie Kulturbetriebe,  Vereine, Kirchen und Läden, die nicht zur Grundversorgung gehören, sind geschlossen. Ausgangsbeschränkungen prägen das öffentliche Leben und werden polizeilich ohne Rücksicht auf den Datenschutz durchgesetzt. Überall gibt es Menschen, die in den «systemrelevanten» Betrieben arbeiten müssen, solche die zu Hause bleiben können und solche, welche die Arbeit verloren haben. Die Landesgrenzen sind geschlossen. Eine europäische Solidarität gegenüber den von der Krise am stärksten Betroffenen, etwa die Flüchtlinge in den Lagern Griechenlands, den sozial Schwächsten, Asylsuchenden und prekarisierten ArbeiterInnen in den jeweiligen Ländern, ist nicht auszumachen. Auf der politischen Agenda stehen Abschottung und Protektionismus.

Alle Länder waren schlecht auf die Krise vorbereitet. Die neoliberale Politik und Ökonomie der letzten Jahrzehnte haben einen enormen Schaden angerichtet. Privatisierungen, der Abbau des Service Publik, Steuergeschenke an die Unternehmungen und Kosteneinsparungen im Sozial- und Gesundheitswesen führen nun in diversen europäischen Regionen zu disaströsen Engpässen im Gesundheitswesen. Als Konsequenz davon muss das Pflegepersonal massive Überstunden leisten, auch jene, die zur Risikogruppe gehören. Ihnen gebührt unser Dank und unsere Solidarität, doch die Probleme bleiben bestehen.

ArbeiterInnen, welche in den letzten Jahrzehnten wie beispielsweise im exportorientierten Deutschland massenweise ins Niedriglohnsegment oder ins Prekariat gedrängt wurden, haben bei Entlassungen oder Kurzarbeit keine Reserven. Sie können bald weder Miete noch Rechnungen bezahlen. Auch kleine Handwerker und Händler stehen am Abgrund.

Weil die Pandemie ursächlich ein medizinisches Problem und keine von der Politik ausgelöste Krise ist, bricht ein Graben zwischen Staat und Kapital auf, da unterschiedliche Interessen auftauchen. Die Regierungen gewähren dabei einerseits keynesianische Finanzspritzen und humanistische Hilfen, zum Beispiel mit der Enteignung von Hotels für Obdachlose. Andererseits ist eine Tendenz zur Militarisierung spürbar.

Die Krise hat die EU in einem fragilen Moment getroffen. Sie ist kaum in der Lage, Massnahmen gegen die Ausbreitung des Virus zu koordinieren, geschweige denn kollektiv zu handeln. Im Gegenteil werden Schutzmasken zurückgehalten oder zu Verschwinden gebracht und gelangen nicht in die Regionen, in denen sie am dringendsten gebraucht würden.

Nebst den Gemeinsamkeiten im Umgang mit der Corona-Krise gibt es auch Unterschiede in den verschiedenen Ländern, auf die wir nachfolgend eingehen möchten.

Deutschland

In Deutschland gibt es keine explizite Ausgangssperre. Die Wohnung soll jedoch nur für unbedingt notwendige Tätigkeiten verlassen werden, wozu auch die Lohnarbeit zählt. Die Kinderbetreuung ist stark eingeschränkt. Wer sich nicht an die Massnahmen hält, bekommt Bussgelder oder riskiert eine Freiheitsstrafe. Die Telefonanbieter und die Gesundheitsämter geben persönliche Daten den Behörden weiter. Im Süden Deutschlands wurden mehr Massnahmen durchgesetzt, weil der Virus stärker verbreitet ist. Im Norden sind die «Deklassierten» wie ArbeitsmigrantInnen und Arbeitende im Niedriglohnsektor am stärksten betroffen. Die von der Regierung getroffenen Massnahmen werden im Allgemeinen von der Bevölkerung akzeptiert, ohne dass eine nennenswerte Debatte über Sinn und Unsinn der Einschränkungen stattfindet.

Die Pandemie wird von der Regierung als Naturkatastrophe klassifiziert, womit die Bundeswehr im Innern als Amtshilfe für die Polizei eingesetzt werden kann. Vom Staat wird versucht die aufbrechenden Widersprüche zu verschleiern, indem die Losung einer fiktiven «Volksgemeinschaft» ausgegeben wird. Verschiedene Eigeninitiativen der Menschen werden vereinnahmt mit dem Ziel, keimenden Widerstand und Protest zu verhindern.

In der Ökonomie drohen die schwarzen Zahlen in den roten Bereich abzurutschen. Firmen werden unterstützt und Verluste sozialisiert. Teile der Autoindustrie sind ausgesetzt (Daimler, VW). Es ist davon auszugehen, dass die Autoindustrie die Krise ausnützen wird um vorbestehende Probleme auszumerzen und um zukünftig konkurrenzfähiger zu werden.

In der Landwirtschaft sollen Arbeitslose, Lernende und Geflüchtete die Spargelernte retten, da die ErntehelferInnen nichts einreisen dürfen. Als weitere Massnahmen sind Kurzarbeit und Zwangsurlaub vorgesehen. Hingegen werden die Öffnungszeiten der Supermärkte verlängert. Es ist zu befürchten, dass sie auch nach der Pandemie aufrecht erhalten bleiben.

Die Solidarität mit dem Pflegesektor ist gross. Andere sinnvolle Formen von Nachbarschaftshilfe die eine Solidarität in der Klasse bewirkten, versucht der Staat unter seine Kontrolle zu bringen. Der Staat kritisiert zum Beispiel die Solidarität mit den Obdachlosen und versucht Soli-Gruppen staatlich zu lenken.

In den Knästen und Psychiatrien herrscht überall ein Besuchsverbot, was fatale Auswirkungen für die Betroffenen hat. Aufstände wie in anderen Ländern, gibt es aber noch nicht. Auch der Burgfrieden unter den sogenannten Sozialpartnern ist  noch intakt. So kommt es nicht zu grösseren Streiks.

Belgien

In Belgien ist im medizinischen Bereich das Krisenmanagement noch nicht überfordert. Der Lockdown ist weniger repressiv, als zum Beispiel in Frankreich. Vieles läuft «ohne Zwang» ab. Wenn man sich draussen aufhält, genügt eine mündliche Erklärung.

Im Bildungsbürgertum werden diese Ausgangsbeschränkungen romantisiert. Es wird als positiv angesehen, dass die Umweltverschmutzung reduziert wird und mehr Zeit für eigene Projekte bleibt.

Die ArbeiterInnen erleben eine andere Realität. 10 Prozent der Bevölkerung (rund 1 Million Menschen) sind innerhalb eines Monats arbeitslos geworden. Sie bekommen nun 70 Prozent ihres Lohns. Die für die Bewältigung der Krise relevanten Berufe (Pflege, Verkauf) werden zur Arbeit gezwungen. Die Krise wird vom Kapital als Versuchslabor für die Liberalisierung der Arbeit genutzt. So wird wie in Deutschland versucht, längere Öffnungszeiten in den Supermärkten durchzusetzen. Im Moment sind sie krisenbedingt «provisorisch» erlaubt, da eine weitergehende Regelung von der Klasse vorerst abgewehrt wurde. Die ArbeiterInnenklasse reagierte insgesamt mit vielen solidarischen Aktionen und einer kritischen Diskussion gegen diese behördlich angeordneten Massnahmen. Darüber hinaus gab es kleinere Streiks.

Auf der politischen Ebene war die Reaktion der Bourgeoisie auf die Ausbreitung des Virus chaotisch. Als erster Reflex brandmarkte sie die Migration, wobei ironischerweise die ersten Fälle in Afrika aus Belgien eingeschleppt wurden. Die Repression nimmt zu, während es in den Knästen zu Aufständen kam. Die Polizei gründete Pandemieeinheiten, da Leute sie angespuckt und angehustet hatten. Sie vertrieb Sans Papiers und Obdachlose von ihren Orten. Gleichzeitig wurden jedoch auch Hotels beschlagnahmt, um Obdachlose darin unterzubringen. Es gibt auch eine eine politische Kritik, die moniert, dass weiterhin Flugzeuge gekauft werden, aber keine dringend benötigten Masken.

Italien

Die Situation in Italien ist tragisch und dramatisch. Der italienische Sozialstaat ist schwach. Wer zu Hause bleiben muss, erzielt kein Einkommen. Daraus folgten soziale Spannungen, wie etwa in Palermo, als Lebensmittelläden kollektiv geplündert wurden mit der Parole: «Wir haben kein Geld, wir brauchen Essen».

Die Arbeitgeber in der Industrie wollen trotz vieler Corona-Infiszierten die Produktion nicht stoppen. Dagegen kam es in den Fabriken zu einem starken, wütenden Widerstand mit spontanen Streiks. Die Basisgewerkschaften, insbesondere die Si Cobas und USP, welche aktuell die strukturiertesten Organisationen sind und von der Situation profitieren, unterstützten diese Streiks. Deswegen mussten die grossen Gewerkschaften auch reagieren. Im März fanden Verhandlungen zwischen der Regierung, den Arbeitgebenden und den Gewerkschaften statt. Es folgten Proteste und am 25. März 2020 ein erfolgreicher Generalstreik. Gefordert wird unter anderem das Recht auf Arbeitslosengeld für alle, während dessen die Staat mit keynesianistischen und Rooseveltschen Massnahmen operiert.

Ein Gruppe von Arbeitenden in einer Lebensmittelfabrik streikten, weil ein Mitarbeiter im Betrieb zu Tode kam. Die Streikenden wurden von der Polizei festgenommen und gemäss dem Notstandgesetz zur Gefährdung von Personen mittels Zusammenkünften und wegen Landfriedensbruch angeklagt. Der Chef hingegen, der für den Tod des Arbeiters verantwortlich war, kam ungeschoren davon.

Solche Erfahrungen der Repression und auch die durch die Krise, bzw. durch die  verheerenden Zuständen ausgelösten Aufstände in den Knästen, bei denen 14 Gefangene ums Leben kamen, bewirken,  dass diese politische Themen aufgegriffen werden, insbesondere wie gegen die Repression und die Militarisierung gehandelt und die Solidarität gestärkt werden kann.

Die Bourgeoisie wird seit längerer Zeit durch eine faschistische und rassistische Welle dominiert. Die Rechten legten bei den Wahlen zu, wovon auch die Bourgeoisie profitierte. Vor allem für Menschen aus Afrika herrschten in den letzten Jahren sklavenähnliche Arbeitsbedingungen, um Kosten zu sparen und der Krise beizukommen. Nun hat die Pandemie die Krise geschürt. Es ist bezeichnend für den Zustand der EU, dass die grösste internationale Hilfe nicht von den anderen europäischen Staaten, sondern aus China und Kuba kommt.

Frankreich

Der Klassenkampf war in Frankreich selten so sichtbar wie jetzt. Vor allem das prekarisierte Proletariat arbeitet weiter, während das Kleinbürgertum oder das bessergestellte Proletariat ins Homeoffice ausweichen kann. Die Auswertung der Telefondaten haben ergeben, dass rund 20 Prozent der Bevölkerung von Paris die Hauptstadt verlassen haben.

Die Bourgeoisie entzieht sich ihrer Verantwortung. So hat zum Beispiel die Gesundheitsministerin ihren Posten mitten in der Krise geräumt. Im Gesundheitsbereich spitzt sich die generell schwierige Situation immer weiter zu. Bereits vor der Corona-krise gibt es seit ungefähr einem Jahr eine grosse Mobilisierung in den Pflegeberufen.

Zunehmend beginnen auch die Konflikte in systemrelevanten Sektoren. So wollen zum Beispiel die Fabriken im Flugbereich (Airbus, sowie Zulieferer und outsourcte Stellen), welche Mitte März schliessen mussten, wieder öffnen. Arbeitende und Gewerkschaften versuchen dies zu verhindern. Die Regierung möchte die Baustellen wieder öffnen, doch ist sie mit Streikdrohungen für bessere Hygienebedingungen konfrontiert. Zudem gibt es Massnahmen zur Einführung neuer Arbeitsbedingungen, wie längere Arbeitszeiten und weniger Ferien.

Die Regierung benutzt ferner Kriegs-Rhetorik und setzt im Süden Frankreichs Drohnen zur Überwachung ein. Für Sicherheit sorgen, kann sie nicht: Es gibt keine Masken mehr und den Spitälern gehen die Materialien aus.

Der Liberalismus wird von breiten Teilen der Bevölkerung in Frage gestellt. Es wird sichtbar, dass er den Profit vor die lebensnotwendigen Bedürfnisse der Menschen stellt. Selbst die Bourgeoisie gibt das zu. Es stehen Überlegungen im Raum, dass grosse Firmen verstaatlicht werden sollten um die Krise zu überwinden. Für die breite Bevölkerung wird die Frage offensichtlich, warum der Staat lieber Waffen kauft, als den Gesundheitssektor zu stärken. Fragen tauchen auf, wer was produziert und wer die Gesellschaft am Laufen lässt.

Die Gilets Jaunes reagieren auf die neue Situation, indem sie ihre Proteste dezentralisieren. Transparente werden zu Hause aufgehängt. Die revolutionäre Linke hat damit begonnen, sich para-gewerkschaftlich zu organisieren. Aus autonomen Kreisen gibt es einen Aufruf für einen Streik im April, der von vielen Ländern übernommen wurde. Durch eine Telefonnachricht von Georges Abdallah weiss man, dass in den Gefängnissen noch Ruhe herrscht, die Stimmung jedoch am Kippen ist, wegen den fehlenden Besuchen.

Ausblick

Die Auswirkungen der Corona-Krise auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der  Klasse lässt sich noch nicht abschätzen. Je mehr sich die Zange der Einsperrung löst, je mehr Gelegenheit wird es in allen Ländern geben, die Systemfrage zu stellen. Die Sektoren, wo die Menschen schon zusammenkommen und demonstrieren, wie etwa in Italien auf dem Bau, können als Grundlage dienen. Viele Leute aus verschiedenen Strukturen sind bereit sich zusammenzuschliessen, und gegen den Kapitalismus eine Perspektive zu entwickeln.