Es braucht nicht zu bleiben, wie es ist
Die Oktoberrevolution war das historische Ereignis des letztenJahrhunderts. Der erste erfolgreiche Angriff auf die Klassengesellschaft und das Privateigentum an Produktionsmitteln. Der Versuch, eine Gesellschaft aufzubauen, die auf Kollektivität und Gleichheit beruhen sollte, hatte das Bürgertum in den Grundfesten erschüttert und war für das Proletariat Quelle der Hoffnung und der Kampfkraft.
(az) Die Bedeutung der Oktoberrevolution ist unbestritten, tief uneinig ist man sich in ihrer Bewertung – von der Verteufelung bis hin zur Anbetung ist alles zu haben. Der revolutionäre Aufbau gehört selbstverständlich zum Lager, das die Oktoberrevolution hochhält. Es ist der weitere Verlauf der Revolution, der bei uns zu Diskussionen Anlass gibt. Da die gegebenen wirtschaftlichen Voraussetzungen äusserst schlecht waren und die Angriffe der Feinde der Revolution nicht auf sich warten liessen, auch verhängnisvolle Fehler gemacht wurden, wurde die Sowjetunion nicht zum Arbeiterparadies, das sie behauptete zu sein. Aber etwas anderes zu erwarten, wäre verblendet und illusorisch. Das war auch damaligen Revolutionären bewusst, was sich z.B. daran ablesen lässt, dass sich Lenin freute, als die Revolution nach drei Monaten noch unbesiegt war und damit länger als das einzige vergleichbare Experiment, der Pariser Kommune, überlebt hatte. Wir, die wir im Nachhinein wohlinformiert und gut genährt sind, sollten darüber reflektieren, aber nicht überheblich urteilen. Weitreichende Entscheidungen wurden in einer Lage getroffen, die bedrängt und unübersichtlich war, vor allem ohne Vorbild, aus dem hätten Lehren gezogen werden können. Darüber werden wir in späteren Nummern schreiben. Jetzt, da sich die Oktoberrevolution zum 100. Mal jährt, wollen wir an dieses überwältigende Ereignis erinnern.
Brot, Land, Friede
Eine Revolution findet nicht unter Idealbedingungen statt, sondern in einer aufgeladenen, konfliktreichen Situation, in der die Massen dermassen unzufrieden sind, dass sie ihrem Elend ein Ende setzen wollen. Das trifft sowohl auf die Februar- als auch auf die Oktoberrevolution in einem hohen Mass zu. Brechts Resolution der Kommunarden hat die revolutionäre Stimmung, die 1917 herrschte, am schlüssigsten zusammengefasst, als er dichtete: «In Erwägung, dass ihr uns dann eben mit Gewehren und Kanonen droht, haben wir beschlossen, nunmehr schlechtes Leben mehr zu fürchten als den Tod.» Denn es waren die Massen, die 1917 entschieden, der Armee gegenüber zu treten und damit Geschichte zu schreiben. Dass bürgerliche HistorikerInnen die Oktoberrevolution als einen «Putsch» der Bolschewiki (oder gar Lenins im Alleingang) bezeichnen, ist nicht nur eine Frechheit und falsch, sondern eine absichtliche Verdrehung der Tatsachen. Die breiten Massen – zumindest in Petrograd, Moskau und unter den Soldaten an der Front – wollten die Revolution. Die Bolschewiki zeichnete aus und das unterschied sie von anderen SozialistInnen ihrer Zeit, dass sie gewillt waren, diesen Weg mit den Massen gemeinsam zu gehen, die Macht danach zu halten und nie mehr ans Bürgertum abzutreten. Eric Hobsbawm formuliert: «Lenins aussergewöhnliche Leistung bestand darin, dass er diesen unkontrollierbaren, anarchischen Volksaufstand in eine bolschewistische Macht transformieren konnte.
Muss eine bürgerliche Revolution vorangehen?
Aber machen wir einen Schritt zurück zur Februarrevolution: Die Massen hatten die Absetzung des Zaren erkämpft, insbesondere die Soldaten, die sich zunächst weigerten, gegen die streikenden Männer und Frauen vorzugehen und sich dann offen auf deren Seite schlugen, hatten dem Zarismus den Garaus gemacht. Mit grosser Selbstverständlichkeit übernahmen jetzt die Kräfte der Duma (des bestehenden Parlaments) die Aufgabe, eine Regierung zu bilden und – nicht verwunderlich – wählten sie dafür Männer ihrer eigenen Klasse, der Bourgeoisie. Die wenigen wohlhabenden, gebildeten Bürger, die mit der Revolution rein gar nichts zu tun hatten, übernahmen also, einzig durch die Tatsache legitimiert, dass sie im Zarismus bescheiden an der Macht beteiligt gewesen waren. Was die russische Revolution auszeichnet ist jedoch, dass die bürgerliche Regierung nie unhinterfragt war. Denn sofort erfolgte auch die Bildung von Sowjets. (Siehe Artikel zu den Räten gegenüber). Der in der Folge wichtige Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten nahm die Arbeit auf, als die Duma noch beriet, ob sich der Zar nicht doch halten könnte.
Eine kleine Gruppe von vorwiegend Menschewiki hatte entschieden, einen Sowjet einzuberufen und wenig später sassen 250 Personen im Saal. Allerdings waren nur einige wenige davon Bolschewiki. Der Metallarbeiter Schljapnikow, ein Kader der Bolschewiki, soll seine Genossen angefleht haben, ins Taurische Palais zu eilen und teilzunehmen. Doch galt deren Aufmerksamkeit der Bewegung auf der Strasse und ihr Sinn stand nicht nach Sitzungen, insbesondere nicht solchen, die von den Menschewiki einberufen worden waren, also blieb Schljapnikow ziemlich einsam. Die Skepsis der Bolschewiki ist durchaus nachvollziehbar, sie führte allerdings dazu, dass die rechten und moderaten Sozialisten die Führung im Sowjet unbeanstandet innehatten. Sie bildeten ausserdem sofort das Ispolkom (Exekutivkomitee des Sowjets), das Entscheidungskompetenz hatte und nutzte. Praktisch hielten sie den Sowjet so handzahm, immer in der Absicht, die bürgerliche Regierung zu unterstützen, manchmal leicht nach links zu korrigieren, aber immer nur so weit, wie es notwendig war, um die Entscheidungen überhaupt durchsetzbar zu machen. Eine Vorgehensweise, die den SozialdemokratInnen auch heute noch einverleibt ist, aber 1917 besonders folgenreich war. Was also gemeinhin als Doppelherrschaft bezeichnet wird, war in Tat und Wahrheit die Herrschaft der provisorischen Regierung, die vermittels des Sowjets durchgesetzt wurde.
Postol›ku, posol›ku
Tatsächlich stellte sich die Frage, ob eine sozialistische Machtergreifung möglich und sinnvoll sei, allen MarxistInnen. Das agrarisch geprägte russische Reich schien denkbar ungeeignet, die revolutionäre Vorreiterrolle zu übernehmen, diese Rolle war dem deutschen Proletariat zugedacht. Deshalb vertraten nach der Februarrevolution nicht nur die Menschewiki, sondern auch die Bolschewiki die Meinung, es sei richtig, dass das liberale Bürgertum die Macht übernommen habe, Russland müsse noch die Phase der bürgerlichen Revolution durchlaufen. Während das heute eine theoretische Frage zu sein scheint, war sie im Moment der Februarrevolution die Frage der Fragen. Um das zu illustrieren, sei hier ein Zitat des Menschewiken Zereteli angeführt, einer Führungsfigur des Petrograder Sowjets. Er bedankte sich in seiner ersten Rede bei den Arbeitern und Soldaten dafür, dass sie die proletarische Revolution nicht gemacht hätten. Das sei ebenso wichtig wie die Absetzung des Zaren. «Ihr habt die Bedingungen abgewägt… und ihr habt verstanden, dass die Zeit noch nicht gekommen ist. Ihr habt verstanden, dass eine bürgerliche Revolution stattfindet. Die Macht liegt nun in den Händen der Bourgeoisie, aber gleichzeitig wacht ihr über die neu errungene Freiheit… Die provisorische Regierung muss volle ausführende Gewalt haben, sofern diese Gewalt die Revolution stärkt.» Die Formulierung «insofern, dass», auf Russisch «postol›ku, posol›ku» sollte als prototypische Redewendung der Beschlüsse des Sowjets in die Bücher eingehen. Der Sowjet unter der Führung der rechten Sozialrevolutionäre und der Menschewiki leitete die Soldaten und ArbeiterInnen in der Folge konsequent dazu an, eine Politik zu unterstützen, die ihren Interessen widersprach. Am widersprüchlichsten war die Frage der Fortführung des Krieges. Während sich der Krieg für die rechten Sozialisten mit der Februarrevolution in einen «gerechten» Krieg verwandelt hatte und sie dazu aufriefen, das Vaterland und die Revolution zu verteidigen, waren die Soldaten und die breite Bevölkerung nach wie vor der Meinung, der Krieg müsse beendet werden.
Alle Macht den Räten
Diese Grundhaltung, die Herrschaft des Liberalismus sei schmerzhaft aber notwendig, erschütterte Lenin, als er im April aus dem Schweizer Exil nach Petrograd zurückkam und als erstes erklärte: «Alle Macht den Räten». Er wagte damit die Forderung, einen Schritt in Richtung sozialistischer Revolution weiterzugehen. Doch darf diesbezüglich die Rolle Lenins nicht überschätzt werden: Hätten nicht sehr viele Militante an der Basis und im Kader auf eine Stimme wie die seine gewartet, wären seine Aprilthesen im Sand verlaufen. Er brachte zum Ausdruck, was viele dachten: Der Sowjet war die Instanz, die die Macht hatte, er sollte sie gefälligst auch im Sinne der anwesenden Delegierten nutzen. Natürlich war auch diese Forderung äusserst zwiespältig, solange die Rechten im Sowjet die Mehrheit hatten, doch fasste sie das konfrontative Haltung zusammen: Viele ArbeiterInnen und Soldaten hielten es nicht für ihre historische Aufgabe, aufgrund einer dogmatischen Auslegung des marxistischen Stufenmodells des Wegs hin zum Sozialismus dauernd gegen ihre ureigensten Interessen zu verstossen und die von den Massen schmerzhaft empfundenen Entscheidungen der Regierung zu befolgen. Und so kam es dann auch in der sog. Julikrise zur ersten grossen Konfrontation zwischen Regierung und den Massen, als eine militärische Offensive den Krieg intensivierte, anstatt ihn zu beenden.
Die bolschewistische Partei wuchs und galt bald unter den radikaleren Kräften als die Instanz, die willens war, gegen die provisorische Regierung vorzugehen. Dies sogar in Momenten, in denen sie in Tat und Wahrheit zögerte. Denn die Partei musste sich der folgereichen Frage stellen, was nach einem Sturz der Regierung folgen würde und solange sie nicht genügend verankert war, würden die rechten Sozialisten das Ruder wieder in Richtung Herrschaft des Kapitals drehen. So entschied sich die Führung der Bolschewiki vor den Juliaufständen eher widerwillig und erst in letzter Sekunde, diese zu unterstützen. Der Aufstand scheiterte. Das wiederum hatte die Folge, dass die Bolschewiki wieder verfolgt wurden, viele im Gefängnis landeten oder untertauchen mussten. Als die neu gebildete Regierung unter Kerenski entschied, den Sowjet nicht mehr zu beachten und zur Sicherung der Macht den Oberbefehlshaber der Armee Kornilow mit Truppen nach Petrograd zu beordern, überschätzte sie die Loyalität des Generals massiv. Kornilow beabsichtigte sehr wohl, dem revolutionären Treiben in der Hauptstadt entgegenzutreten, aber nur, um eine Militärdiktatur zu installieren. Aus dieser Zwickmühle konnte sich Kerenski nur befreien, indem er die linken Revolutionäre um Hilfe bei der Verteidigung Petrograds bat. Die Bolschewiki, eben noch der vorfolgte Feind, wurden plötzlich auserkoren, die provisorische Regierung zu retten. Denn es war klar, dass nur sie dafür in Frage kamen, nur sie waren fähig, die schlagkräftigsten und kampfbereitesten Militanten zu mobilisieren. Der Preis, den sie dafür verlangten, war die Bewaffnung der ArbeiterInnen. Über Nacht wurden 40˙000 Petrograder ArbeiterInnen bewaffnet und der Putsch wurde ausgebremst, noch bevor er versucht worden war. Bahnarbeiter sabotierten die Zuglinie und revolutionäre Soldaten fuhren zu Konrilows Truppen und überzeugten diese, den Marschbefehl zu verweigern. Ab diesem Moment war klar, dass die provisorische Regierung gestürzt werden konnte, es stellte sich nur noch die Frage, wie und ob.
Zuerst Petrograd, dann die Welt
Nach dem Putschversuch war die allgemeine Stimmung weit nach links gerückt, die Bolschewiki waren in Petrograd die stärkste Kraft und es schien einen Moment lang sogar möglich, gemeinsam mit anderen sozialistischen Kräften die Macht zu übernehmen. Doch setzten die Reflexe der Rechten schnell wieder ein und es wurde erneut darüber debattiert, dass ein Bündnis mit der Bourgeoisie unumgänglich sei.
Indessen breitete sich in Petrograd die Angst aus, dass die Hauptstadt aufgegeben werde. Tatsächlich war die Bourgeoisie im Begriff, die Koffer zu packen und beabsichtigte, die deutsche Armee das revolutionäre Problem lösen zu lassen. Die Bolschewiki debattierten täglich und intensiv über den Weg, der nun einzuschlagen sei, dabei waren die Meinungen keineswegs einheitlich. Lenin vertrat hart den Kurs, der Aufstand müsse probiert werden, es gab aber auch Stimmen, die meinten, das sei verfrüht und sehr viele meinten, es müsse zuerst der geplante Kongress der Sowjets abgewartet werden.
Als Trotzki im Petrograder Sowjet erreichte, dass das Revolutionäre Militärkomitee (Milrevkom) zur Verteidigung Petrograds gegründet wurde, wurde das in breiten Kreisen als Zeichen gelesen, dass die Bolschewiki nun zur Planung des Aufstandes übergegangen seien. Das entsprach bedingt den Tatsachen, man blieb sich vorerst uneins. Tatsächlich sollte sich aber das Milrevkom, in welchem die Bolschewiki die Führung hatten, als äusserst wichtig erweisen. Es forderte unmittelbar das Vetorecht für jegliche militärische Frage. Selbstverständlich lehnte die Generalität ab, doch als Kerenski den Befehl gab, das Milrevkom zu entmachten, hatte er seine eigene Macht wieder überschätzt. Die meisten Soldaten standen hinter dem Milrevkom und in der Peter-Paul-Festung, die bekannt gegeben hatte, dass sie sich nicht an einem Aufstand beteiligen wolle, wurde eine öffentliche Debatte organisiert. An deren Ende waren nur noch einige Offiziere gegen den Aufstand. Es ist unklar weshalb, aber trotz des spektakulären Erfolgs verzichtete das Milrevkom noch in derselben Nacht von sich aus auf das Vetorecht, das es vorher beansprucht hatte. Es ist aber auch egal, denn ebenfalls in dieser Nacht formierte sich die Konterrevolution, eine zusammengestückelte Armee machte sich auf den Weg, die Bolschewiki anzugreifen, das erste Ziel waren ihre Zeitungen.
Es verschwimmt, ob die Bolschewik angriffen oder sich verteidigten. Der Angriff der Konterrevolution machte die langatmigen Diskussionen über den Aufstand auf jeden Fall überflüssig. Er war da und es sollte sich schnell zeigen, dass die Konterrevolution nicht genügend Kräfte hatte mobilisieren können, um ihn aufzuhalten. So verlief die Oktoberrevolution überstürzt und unordentlich, wichtige Gebäude wie die Post- und Telegrafenamt oder auch der Bahnhof wurden sofort besetzt, Unterstützung von ausserhalb, wie das Kriegsschiff Aurora und die Kronstädter Matrosen trafen mit der Zeit ein, die wichtigen Brücken zum Winterpalais mussten freigekämpft werden, doch verlief die Revolution eher unblutig und als die Revolutionäre spät abends das Winterpalais einnahmen, hatten sich die Verteidiger bereits aus dem Staub gemacht, ebenso Kerenski, der mit Hilfe der US-Botschaft geflohen war. Die Revolution hatte gesiegt und mit ihr die Hoffnung des Proletariats der ganzen Welt, dass Befreiung möglich ist. Es braucht nicht zu bleiben, wie es ist.
Aus: aufbau 90