Gestorben wird in Raqqa, nicht in Paris

Ein Bericht der britischen BBC über das „schmutzige Geheimnis“ der Befreiung Raqqas enthüllt vor allem eines: Die neokoloniale Gedankenwelt westlicher Journalisten.

Vergangene Woche enthüllte die britische BBC mit markiger Geste ein „schmutziges Geheimnis“: Am Ende der Schlacht um Raqqa hätten die Syrian Democratic Forces, das von der kurdischen YPG geschmiedete Militärbündnis gegen den Islamischen Staat, „hunderte IS-Kämpfer und deren Familien“ einfach so abziehen lassen. Der „Deal“ sei ein Skandal und – so suggeriert der Bericht – erhöhe direkt die Anschlagsgefahr in Europa, Amerika oder anderen Ländern.

Der investigative Knüller verbreitete sich in Windeseile und erreichte auch deutsche Medien. Der tagesspiegel beklagte, dass die USA doch einen „Vernichtungskrieg“ versprochen hätten und jetzt von dieser „Strategie“ abweichen; der telepolis-Kommentator Thomas Pany erklärte gleich auch die Frauen und Kinder der Kämpfer zu „IS-Mitgliedern“ und wünsch sich ihre Liquidierung; und das Nachrichtenportal News zittert: „Tausende IS-Kämpfer auf dem Weg nach Europa?“ Die Huffington Post formulierte am offensten, worum‘s den Kritikern geht: „Der Bericht aus Großbritannien zeigt: Die SDF-Anführer stellten den Schutz ihrer eigenen Leute über den Kampf gegen die Terroristen. Sie akzeptierten, dass Dschihadisten entkommen konnten, um die eigenen Verluste zu reduzieren.“

Man kann denen, die solches schmieren, nicht zu gute halten, dass sie nicht wissen, was sie da eigentlich sagen. Sie fordern nichts weniger als die Bombardierung eines Krankenhauses voller Zivilisten. Denn die Lage in Raqqa war so: Als wir am Ende der Operation in den Stellungen rund um jenes Krankenhaus saßen, in dem sich eine für uns unklare Zahl von Kämpfern verschanzt hatte, ging wochenlang nichts voran. Das komplette Gebäude war vermint, und – noch wichtiger: voller Nicht-Kombattanten. In dieser Situation gab es vier Möglichkeiten: einen Luftschlag (Ergebnis: alle Zivilisten und alle Kämpfer tot); den Belagerungsring halten, bis die drin verhungern oder versuchen, auszubrechen (Ergebnis: wahrscheinlich die Mehrheit der Zivilisten tot, die Dschihadisten tot und einige der SDF-Kämpfer wohl auch); einen Angriff mit einer Spezialeinheit (Ergebnis: unklar, aber wahrscheinlich ebenfalls auf allen Seiten viele Tote); einen „Deal“, wie jenen, den die SDF wohl ausgehandelt hat.

Ja, dieser Deal ist auch aus den Erwägungen zum „Schutz der eigenen Leute“ zu befürworten; und zum Schutz der Familien der Daesh-Kämpfer, die eben nicht per Kollektivstrafe alle umgebracht werden sollten, wie sich das deutsche Schreibtischtäter wünschen.

Den „Skandal“ kann hier nur sehen, wer tatsächlich ein Menschenleben in Paris, Washington oder Berlin für maßlos wertvoller hält als eines in Deir ez-Zor, Raqqa oder Minbic. Die offen ausgesprochene Forderung ist: Ihr Kurden und Araber, sterbt für unsere „Sicherheit“, auf dass die Weihnachtsmärkte und Bummelmeilen von unbekümmertem Lachen erfüllt werden. Denn gestorben wird in Raqqa, nicht am Kuhdamm.
1st-World-Problem Level Genozid

Noch absurder ist die Empörung angesichts dessen, woher ein nicht geringer Teil der IS-Kämpfer hier kamen: Sie waren Produkte der westlichen Gesellschaften. Sie reisten hier hin, aus Frankreich, Belgien, den USA, Deutschland, um zu morden, zu vergewaltigen und zu rauben. Die Häuser, die wir in Raqqa einnahmen, waren prall gefüllt mit westlichen Passdokumenten, Briefen auf Holländisch und Daesh-Literatur auf Englisch.

Die von BBC und Co. ausgelöste Empörung spricht jenseits von allem Gelaber so: Unsere Regierungen haben zwar den Mittleren Osten dermaßen drangsaliert, dass Daesh überhaupt möglich wurde; und wir haben zugleich hier jene Menschen sozialisiert, die eure Töchter auf Märkten verkauft und eure Brüder in Massengräbern verscharrt haben. Aber jetzt, da ist es eure Pflicht, zu sterben, damit diese unsere missratenen Söhne nicht nachhause kommen und an unserem Esstisch wüten. Und wenn ihr dabei ein paar von ihren Frauen und Kindern, die sie als Schutzschilde nutzen, in tausend Stücke sprengen müsst, dann macht das. Denn Ahmed muss sterben, damit Hans-Peter leben kann.

Es verwundert kaum, dass man die Angelegenheit vor Ort anders sieht. Unabhängig von der „Enthüllung“ der BBC sprach ich vor Kurzem mit einem hochrangigen diplomatischen Vertreter der kurdischen Bewegung. Er erzählte: „Vor Kurzem waren ein paar französische Journalisten hier. Sie wollten gefangene französische Daesh-Kämpfer interviewen und so unterhielten wir uns darüber, was denn mit diesen Leuten geschehen solle. Ich sagte: ‚Nun, unsere Gefängnisse sind voll. Tausende von denen haben wir hier, aus ganz Europa, auch aus Frankreich. Und eure Regierungen nehmen keine Verhandlungen mit uns auf. Was sollen wir denn hier mit ihnen machen? Sie durchfüttern? Sie erschießen? Es sind französische Staatsbürger, deutsche und britische. Wenn sich keiner bei uns meldet‘, sagte ich,‘ dann setzen wir sie eben in Busse und schicken sie nach Europa.‘ Die waren schockiert. ‚Das könnt ihr doch nicht machen‘, murmelten sie. Aber dass die vorher zu tausenden in unser Land gekommen waren, Menschen ermordeten, die sie nicht kannten, mit denen sie nichts zu tun hatten, das war für sie nicht so schockierend gewesen.“

Es klingt hart für europäische Ohren, aber es ist wahr: Die Sicherheit in den gated communities des Westens ist kein absoluter und für die gesamte Menschheit verbindlicher Wert. Der „Deal“ von Raqqa ist weder ein „Skandal“, noch gar ein Verbrechen gegen „uns“. Er war vernünftig. Denn ja, die Führung der SDF hat an „den Schutz ihrer eigenen Leute“ gedacht. Und deren Leben ist wichtiger als die Zustimmung von ekelhaften Leuten, die ekelhafte Texte schreiben.

Quelle: http://lowerclassmag.com / Peter Schaber