Die Revitalisierung der Monroe-Doktrin

Die USA haben in den vergangenen Monaten ihre Gangart gegen Venezuela verschärft. Sie versuchen die chavistische Regierung zu stürzen, um ihren Hinterhof wieder in den Griff zu bekommen. Ein Interview mit einem Genossen des Zentralamerika-Sekretariats.

(gpw) Vermutlich ist es gut, von vorne zu beginnen, nämlich mit der Geschichte des Verhältnisses der Vereinigten Staaten von Amerika zu Lateinamerika, die sich in der sogenannten Monroe-Doktrin widerspiegelt.

Einverstanden. Die Doktrin ist nach dem US-Präsident James Monroe benannt, der diese 1806 formuliert hatte. Das war eine Zeit, als die antikolonialen Widerstandsbewegungen in Lateinamerika sehr stark geworden waren. Der Kampf gegen die spanische Krone hatte oberste Priorität und es war klar, dass sich die Machtverhältnisse ändern würden. Die USA haben sich daraufhin in Stellung gebracht und proklamierten den gesamten amerikanischen Kontinent für sich. Das war nach dem Genozid an den «native americans» die nächste imperiale Stufe ihrer Politik.

In den 1940er bis 1980er Jahren war die Doktrin stark mit den Militärdiktaturen, mit Massakern und der Verelendung von breiten Bevölkerungsschichten verbunden. Die Erfahrungen der kubanischen Revolution von 1959 waren sehr wichtig, um aus dieser Situation auszubrechen. Die Revolution löste eine Welle von Guerillakriegen aus, die bis auf die sandinistischen Guerilla in Nicaragua allerdings keinen Erfolg hatten und bis auf wenige Ausnahmen liquidiert wurden. Die Diktaturen erschöpften sich in diesen Auseinandersetzungen und wurden durch neoliberale Offensiven unter demokratischen Mäntelchen ersetzt.

Dieser Zugriff scheint sich in den vergangenen dreissig Jahren zwischenzeitlich gelockert zu haben. Es gab in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern fortschrittliche Bewegungen und Regierungen gab. Unter welchen Bedingungen war das möglich?

Man muss sehen, dass zuvor in Lateinamerika ein extremer Neoliberalismus herrschte. Zugleich gab es breite widerständische Massenbewegungen dagegen, von den Anden bis nach Chiapas. Es gab einen Punkt, an dem klar wurde, dass das Proletariat nicht mehr alles mit sich machen lässt. In Lateinamerika zählen zum Proletariat die afrikanisch stämmige Bevölkerung, die Indigenen, die Bäuerinnen und Bauern, die im informellen Sektor Arbeitenden und Hausangestellten sowie das klassische Industrieproletariat. Hinzu kamen damals junge, urbane Mittelschichten, die unzufrieden waren.

Zur selben Zeit versuchte der US-Imperialismus ab Anfang der1990er Jahre seinen Einflussbereich weltweit auszudehnen. Man denke an den Irak, Afghanistan und Jugoslawien. Das hängt natürlich mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zusammen und dem damit verbundenen Ende dieser bipolaren Situation mit zwei ähnlich starken Machtblöcken. Die Kraft der USA reichte wohl schlicht nicht, um überall die erste Geige zu spielen. Ich hatte das Gefühl, dass sie den Charakter dieser neuen progressiven Regierungen in Lateinamerika falsch einschätzten und es schlicht verschlafen haben, da sie an anderen Orten gebunden waren. Der Wahlsieg von Hugo Chavez 1998 kann dann als Wendepunkt bezeichnet werden.

Wie meinst du das?

Da haben sie gemerkt, dass sie geschlafen haben, und begannen damit, die progressive Welle systematisch zu zerschlagen. Man muss sehen, dass sie damit Erfolg haben, heute sind auf Länderebene noch Venezuela, Kuba, Bolivien und Nicaragua von diesem Aufbruch übrig. Vielleicht hat’s damit zu tun, dass die Vormachtstellung der USA global wieder stärker in Frage gestellt wird und sie sich deshalb wieder stärker an «ihrer» Hemisphäre vergreifen wollen. Die härtere Gangart gegen Venezuela wurde nicht unter Trump ini-tiiert, sondern schon unter Obama eingeläutet. Aber sicher ist es so, dass ein Vizepräsident wie Mike Pence ein Scharfmacher ist, der zu den vehementesten Befürwortern der Monroe-Doktrin in der US-Regierung gehört. Der redet euphemistisch davon, «dass die USA eine besondere Verantwortung für die Stärke von Demokratie und Freiheit in dieser Hemisphäre hat» und bereitet damit den Boden für die nächste Intervention vor.

Wir haben in den vergangenen Monaten rund um die Inszenierung von Guaidó gesehen, wie schnell sich solche versuchte Interventionen abspielen und dabei einer Art von Choreographie zu gehorchen scheinen, in denen verschiedenste Ebenen eine Rolle spielen.

An erster Stelle im Angriff gegen Venezuela steht der Wirtschaftskrieg. Der wird in unseren Medien völlig lächerlich dargestellt. Es wird so getan, als träfen die Sanktionen lediglich prominente Einzelpersonen und hätten keine grösseren Folgen. Dann heisst es jeweils, die Konti dieser oder jener unbeliebten Person seien eingefroren worden. Aber im Ernst: Hätten die Chavisten Geld, dann würden sie es nicht unter ihrem Namen in Miami oder in der Schweiz deponieren, die sind ja nicht blöd.

Die sogenannten sekundären Sanktionen, die den Sanktionen gegen einzelne angehängt werden, sind aber entscheidend. Beispielsweise wird der Chef der Zentralbank sanktioniert und damit auch die Organisationen, die ihm unterstehen. Was ist nun die Funktion der Zentralbank? Sie ist zuständig für die internationalen Zahlungen. Diese können nun nicht mehr oder nur verzögert bezahlt werden – schliesslich gibt’s eine US-Sanktion gegen den Chef! Dann kommen die Rating-Agenturen und stufen die Bonität Venezuelas runter, da das Land seinen Verpflichtungen nicht nachkomme, was wiederum die Spirale weiter antreibt. Es sind diese Sanktionen, die die Wirtschaft und die Bevölkerung wirklich breit angreifen.

Das gehört allesamt zur Strategie des Pentagons, Wikileaks hat im Januar dieses Jahres eines ihrer Papiere veröffentlicht, in denen der Wirtschaftskrieg als Teil der Kriegsführung beschrieben wird. Die Sanktionen sollen die Situation so weit verschärfen, dass militärische Interventionen möglich werden. Und sie wissen sehr wohl, was sie damit anrichten. Ein zentraler US-Thinktank, das «CSIS» meint unverschämt, dass die Sanktionen der Bevölkerung den Zugang zu Nahrung und Medikamenten erschwert haben, wobei das Potential der Sanktionen noch nicht ausgeschöpft sei. Das State Department der USA stellte öffentlich fest, dass die Sanktionen wirken und es den Menschen dadurch wirklich schlecht gehe. Wir haben also Aussagen von Trägern des US-Imperialismus, die sagen: «Diese Sanktionen sind gut, dann verschlechtern sich die Lebensbedingungen der Menschen, dann wird die Regierung gestürzt.» Das ist eine alte Strategie der USA. Schon 1970 forderte Nixon, dass man die Wirtschaft in Chile schreien lassen müsse («make the economy scream»), um damit den Aufstieg von Allende zu verhindern. Wenn die hiesigen Medien also die Folgen dieser Sanktionen kleinreden und negieren, dann betreiben sie aktive Komplizenschaft.
 
Hat die venezolanische Regierung einen solchen Angriff nicht erwartet?

Teile dieses Wirtschaftskriegs sind letztlich nur wegen korrupten Elementen in der venezolanischen Wirtschaft und Politik möglich. Für den Import von Gütern erhielten die Unternehmen staatlich subventionierte Dollarbeträge, die dann grossenteils in den Steuerparadiesen verschwanden. Was importiert wurde, gelang zum grossen Teil über das von wenigen Kapitalgruppen kontrollierte Vertriebssystem auf den Schwarzmarkt, wo die Preise auf Basis der absurd hohen, künstlich festgelegten Wechselkurse im Parallelmarkt festgelegt wurden. Das befeuerte eine enorme Inflation. Ein Währungsregime wie in Venezuela kannst du nur aufrechterhalten, wenn du es rigoros durchsetzt, wenn du Missbrauch hart bestrafst. Somit gab es den Angriff von aussen und gleichzeitig Kollaborateure in den Ministerien. Die Kräfte innerhalb des Chavismus, die das Spiel erkannt hatten, griffen das System nicht an, vielleicht aus Angst vor einer Spaltung.

Das macht die Positionierung in dieser Situation auf den ersten Blick nicht gerade einfach. Ein Teil der hiesigen Linken scheint sich auf eine «weder – noch» Haltung festgelegt zu halten.

Die reden von Äquidistanz und sagen, die Sanktionen seien nicht gut, aber Maduro auch nicht. Sie heben beide Seiten auf die gleiche Ebene. Bei aller Kritik, die du an Maduro haben kannst, aber das ist nicht die gleiche Ebene. Verurteilst du die Sanktionen nicht bedingungslos, unterstützt du den Imperialismus und die rechte Opposition. Wenn du Konflikte nur mit einem starren ideologischen Raster anschaust und nicht von den realen Kämpfen ausgehst, dann kommst du schnell auf solche komischen Positionen. Gegen den Imperialismus gibt es keine «weder – noch» Haltung. Maduro steht für eine Schutzmauer für die Unterklassen und zwar auf kontinentaler Ebene. Wenn du dich davon distanzierst, distanzierst du dich von den realen sozialen Bewegungen in ganz Lateinamerika. Wenn Venezuela fällt, dann folgen Kuba, Nicaragua und Bolivien.

aus: aufbau 97