Im Juni 1918 analysierte Rosa Luxemburg, was sich das imperialistische Kaiserreich von der Beherrschung Polens, der baltischen Staaten und der Ukraine erhoffte
Bei jeder militärischen Entscheidung des heutigen Weltkrieges würde der Imperialismus der eigentliche Sieger, das internationale Proletariat der eigentliche Besiegte sein. Bei einem deutschen Siege jedoch würde der Imperialismus in seiner reaktionärsten, gewalttätigsten, aufreizendsten Gestalt die Herrschaft antreten. Eine Reihe rein historischer Umstände bedingen dies mit zwingender Logik.
Der englische und der französische Imperialismus wurzeln in einer Kolonialpolitik alten Datums, sind an traditionelle Bahnen gebunden, der deutsche war bis zum Ausbruch des Weltkrieges im embryonalen Stadium, hat sich erst im Laufe des Krieges zu ungeheuerlichen Dimensionen ausgewachsen, wächst jetzt noch mit jedem Tage und füllt sich im Blutrausch der Millionenschlächterei mit einem Welteroberungsdrang, der keine Traditionen, keine Fesseln und keine Rücksichten kennt.
Der englische und der französische Imperialismus haben ihre Macht- und Expansionsgebiete in Übersee, der deutsche hat im Herzen Europas seine Zelte aufgeschlagen; ganz Osteuropa stöhnt seit dem Gewaltfrieden von Brest-Litowsk (am 3. März 1918 zwischen Deutschland, Österreich und Sowjetrußland unterzeichnet – d. Red.).
Der englische Imperialismus ist aus geschichtlichen Gründen an gewisse demokratische Formen gebunden, der französische aus wirtschaftlichen Gründen an ein langsames Tempo und stagnierenden Charakter gewöhnt. Der deutsche Imperialismus verbindet das brutale Draufgängertum des preußischen Junker- und Polizeistaates mit der ungestümen Gier eines modernen Finanzkapitals, das gerade in der Bluttaufe dieses Krieges seine größte Zusammenballung erreicht hat.
Während deshalb der anglo-französische Imperialismus im Laufe des letzten Jahrhunderts alle vorkapitalistischen Verhältnisse in Asien und Afrika umgestürzt hat, war und ist seine Politik in Europa selbst wesentlich konservativ. Der deutsche Imperialismus wirft jetzt die Brandfackel des Umsturzes und der Anarchie in europäische kapitalistische Verhältnisse selbst. In wenigen Monaten seiner skrupellosen Wirtschaft nach ostelbischen Methoden hat er in Polen, Litauen, Estland, Kurland, Livland, der Ukraine, in Rumänien, auf dem Kaukasus das Unterste nach oben gekehrt. Von Finnland bis zum Schwarzen Meer hat er ein Elend, einen Ruin, ein unentwirrbares Durcheinander, eine Verschärfung der nationalen und der Klassengegensätze und einen tödlichen Haß erzeugt, die ganz Osteuropa in einen brodelnden Vulkan verwandeln. Nur mit Mühe äußerlich zurückgehalten, ist die Explosion im Osten nur eine Frage der Zeit. (…)
Die Weltherrschaft der »Dicken Berta«, Europa unter dem Joch Preußen-Deutschlands – das ist eben eine weltfremde Phantasie, an die nur die Reventlows (Anmerkung: Ernst Graf zu Reventlow, ehemaliger aktiver Seeoffizier, dann Schriftsteller und marinetechnischer Berater verschiedener bürgerlicher Zeitungen, trat während des Ersten Weltkrieges für eine rücksichtslose Kriegführung mit allen Mitteln ein. Er war einer der Hauptverfechter eines annexionistischen Friedens.) in ihrem naiven Kannibalismus, in ihrer politischen Urwaldnacktheit oder aber nur die Lakaienseelen des Regierungssozialismus allen Ernstes glauben können. (…)
Der »deutsche Sieg« – ob und wann er immer kommen mag – ist auf Sand gebaut; richtiger auf einen Orkan, er ist ein Kartenhaus, das nicht einen Tag ruhig bestehen kann, unter dem schon am andern Tage die Fundamente zu beben und zu bersten beginnen.
Rosa Luxemburg: Der Katastrophe entgegen. Spartacus, Nr. 9 vom Juni 1918. Hier zitiert nach: Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke Band 4. Karl Dietz Verlag, Berlin 2000, Seite 381–383
Junge Welt vom 25. Januar 2014