Spätestens seit den Aufständen in Chile im Oktober 2019 ist klar, dass der feministische Kampf der chilenischen Frauen eine der stärksten Frauenbewegungen weltweit ist. Es ist unbestreitbar, dass ohne den Frauenkampf die Proteste nie so gross und stark geworden wären.
(agkkz) Die Protestbilder aus Chile vom Oktober aus dem Jahre 2019 gingen um die ganze Welt. Millionen Menschen haben sich gegen die rechtskonservative Politik von Präsident Piñera gestellt und sind auf die Strasse gegangen. Nicht nur um ein Zeichen gegen die herrschende Regierung, sondern auch gegen das patriarchale und kapitalistische System zu setzen. Die mehrheitlich privatisierten Schulen, Spitäler und Universitäten sind nur für einen kleinen privilegierten Teil der Bevölkerung bezahlbar. Die Preiserhöhung der Tickets für den öffentlichen Verkehr war der letzte Tropfen, welcher das Fass zum Überlaufen brachte. Innert kürzester Zeit war eine politische Bewegung im Gange, deren Dimension das Land schon lange nicht mehr erlebte. Viele bürgerliche Medien wunderten sich über die Stärke und die Grösse der Bewegung. Wie kann es sein, dass scheinbar aus dem Nichts so viele Menschen auf die Strassen gehen und in organisierten Protesten gegen die Regierung kämpfen? Die Antwort darauf lautet: Das Fundament und die treibende Kraft dieser Bewegung ist der Frauenkampf. In Chile hat der Frauenkampf eine lange Tradition und bereits vor den grossen Aufständen 2019 haben sich viele Frauen organisiert, um kollektiv gegen das patriarchale System zu kämpfen. Die Frauen sind in unterschiedlichen Strukturen, beispielsweise in revolutionären Organisationen, in Nachbarschaftskomitees oder in Gewerkschaften zahlreich vertreten. Ein Beispiel dieser Art der Oranisierung/Agitation ist die Coordinadora Feminista 8m. sie gilt als wichtigste und zugleich radikalste feministische Organisation Chiles. Die Coordinadora Feminista 8m hat unterschiedliche Komitees, die sich in den Bereichen Umwelt, Kinder, Gewerkschaften, Bildung, Gefängnisse, AusländerInnen, usw. engagieren. Diese Art der Politik ist für die feministische Tradition in Chile eher neu. Davor haben sich Feministinnen in einzelnen Bereichen wie Abtreibung, Menschenrechte, gegen Gewalt an Frauen engagiert. Seit einigen Jahren sind viele Feministinnen der Auffassung, dass der Frauenkampf in unterschiedlichen Bereichen gleichzeitig stattfinden muss und die Kämpfe nicht für sich alleine stehen dürfen. Zudem vernetzen sie sich mit Frauen aus anderen lateinamerikanischen Städten und verknüpfen dadurch den feministischen Kampf mit einer internationalen Perspektive. Jedes Jahr im Februar organisiert die Coordinadora Feminista 8m einen Kongress. Letztes Jahr kamen dabei 3’000 Frauen aus verschiedenen Ländern zusammen.
Der Frauenkampf ist in Chiles Strassen omnipräsent und manifestiert sich auch in visuellen Ausdrucksformen. Plakate, Graffitis und politische Parolen wie „las mujeres siempre estamos en primera línea“ (Wir Frauen stehen immer an vordersten Front), „mujeres en rebeldía“ (Frauen im Widerstand) oder „amiga resiste“ (Freundin, leiste Widerstand) zieren die Wände in der Hauptstadt. Nicht nur innerhalb des Landes ist die Schlagkraft der feministischen Bewegung präsent: Die Strassen-Performance “Un violador en tu camino” (vom Kollektiv Las Tesis) ging im Januar 2020 um die Welt und wurde in vielen Städten öffentlich inszeniert. Die Performance ist eine Antwort auf die Gewalt an Frauen und die Femizide im Land. Sexualisierte und häusliche Gewalt sowie Femizide bleiben oft straffrei, weil die juristischen Hürden viele Frauen beziehungsweise Familien davon abschrecken, die Tat überhaupt zur Anzeige zu bringen. Oft werden die Überlebenden von der Polizei nicht ernst genommen, die Gerichtstermine werden grundlos verschoben oder die Anklage aufgrund mangelnder Beweise fallen gelassen – die Frauen in Chile nennen dieses Muster „Re-Viktimisierung“. Im letzten Jahr hat sich die Lage für die Frauen weiter zugespitzt. Viele haben ihre Arbeit verloren und sitzen wegen des Lockdowns ohnehin in den eigenen vier Wänden fest, dadurch verschärft sich die Gewaltbedrohung zu Hause.
Mit den Protesten von 2019 und 2020 hat die feministische Bewegung an Aufmerksamkeit und Kraft gewonnen und am 8. März 2020 sind allein in der Hauptstadt Santiago de Chile eine Million Frauen auf die Strassen gegangen. Insgesamt gingen 3 Millionen Frauen auf die Strasse – die grösste Demonstration seit dem Ende der Pinochet-Diktatur. Auch die chilenische Regierung ist sich der Gegenmacht der feministischen Bewegung bewusst. Sie nutzten die Corona-Krise als Vorwand, um sämtliche Demonstrationen und Proteste behördlich zu untersagen oder diese von der Polizei brutal auflösen zu lassen. Diese Verbote veranlassten die Frauen jedoch nicht Zuhause zu bleiben, im Gegenteil, ihre Bewegung gewinnt auch während der Corona-Krise stetig an Kraft. Mit der Legalisierung der Abtreibung in Argentinien Ende Dezember 2020 ist ein weiteres Feuer entfacht und der Ruf nach Gleichstellung und Selbstbestimmung war in Chile so laut wie noch nie. Die chilenischen Frauen werden mit Sicherheit auch im Jahr 2021 an vorderster Front gegen patriarchale Strukturen, den Staat und den Kapitalismus weiterkämpfen.
aus: aufbau 104