Wenn sich die revolutionäre Linke in gesundheitspolitischen Fragen auf der Seite der Angestellten positionieren will, muss sie neben gesellschaftlichen Fragen auch die systematischen Probleme des Gesundheitswesens kennen. Scharnierthemen können helfen Arbeitskampf und Gesellschaftspolitik zu verbinden.
(az) Die Covid-19 Pandemie hat den Gesundheitsbereich innert kürzester Zeit ins Rampenlicht katapultiert und viele bestehende Probleme verschärft. Zunehmend viele politische Organisationen und Akteur_innen verhalten sich zu gesundheitspolitischen Fragen und solidarisieren sich mit den Angestellten. Auch von deren Seite gibt es Initiativen, die sich mit der eigenen Arbeitsrealität und der Gesundheitspolitik auseinandersetzen und Veränderung fordern. Als politische Organisation fällt es manchmal schwer, die richtige Flughöhe in der Arbeitskampf-Propaganda zu finden. Einerseits ist die gesundheitspolitische Dimension der Covid-Krise für alle politischen Organisationen anschlussfähig (siehe z.B. Zero Covid). Diese gesellschaftliche Ebene sind wir gewohnt, sie ist auch dringend notwendig. Andererseits haben klassenkämpferische Organisationen den Anspruch, Arbeitskämpfe zu unterstützen, mit dem Ziel, sie gesellschaftlich aufzuladen und zu radikalisieren. Dazu braucht es einen Zugang zu den Arbeitsrealitäten der Angestellten, ihren Themen und Anliegen. Denn diese sind Ausgangspunkt jeden Arbeitskampfes. Die gesellschaftliche Dimension von Tätigkeiten wie Pflege oder Kinderbetreuung ist in der Arbeitskampf-Propaganda nicht genug.
Um das zu verstehen, bietet sich ein Perspektivenwechsel an: Angestellte in der Care-Arbeit sehen ihren Beruf aus der Optik von Personen, die ihn täglich ausüben und sich dadurch den technischen, methodischen, theoretischen und ethischen Fragen stellen, die der Alltag an sie heranträgt. Diese Fragen werden schon im Laufe der Ausbildung immer wieder behandelt, meist in Form einer fachlichen, eher technischen Diskussion. Um aus einem technischen ein politisiertes Verständnis des eigenen Berufes herauszubilden, braucht es eine Dekonstruktion der vielen «Gegebenheiten» und «Sachzwänge». Wenn nun politische Aktivist_innen zu intervenieren versuchen und auf relativ abstrakter Ebene neue gesellschaftliche Perspektiven fordern, dann ist dies politisch korrekt – aber kaum anschlussfähig an oder für konkrete Organisierung der Angestellten. Dazu braucht es zusätzlich ein Verständnis der wichtigen «Gegebenheiten» und «Sachzwänge» des jeweiligen Arbeitsbereichs. Nennen wir sie der Einfachheit halber Scharnierthemen. Im Gesundheitsbereich gibt es einige wichtige Scharnierthemen, die den Bogen von der Gesundheitspolitik zum Arbeitskampf schlagen. Sie verbinden Arbeitserfahrungen und die politische Steuerung des Gesundheitsbereichs und verdeutlichen in ihrer Summe, wieso die Probleme systematisch und nicht reformierbar sind. Dazu drei Beispiele:
1. Die Fallkostenpauschale
Die Einführung der Fallkostenpauschale 2012 ist ein Schlüsselmoment und hat die Situation der Angestellten in der Folge massiv verschärft. Die Fallkostenpauschalen wurden dort entwickelt, wo das Lobbying des Kapitals seine grösste Wirkung entfalten konnte. Die Gesundheitsdirektorenkonferenz, der Spitalverband H+, der Krankenkassenverband santésuisse und der Ärzteverband FMH gründeten die SwissDRG AG. Dort wurden die Fallkostenpauschalen in den Hinterzimmern der «Tarifpartner» ausgestaltet und auch heute noch in einer AG verwaltet. Die Basis der Ärzt_innen war darüber verärgert, konnte sich aber nicht durchsetzen. Der Pflegeverband SBK hingegen trat schon bei der Entwicklung der Pauschalen wieder aus der AG aus.
Die Behandlungskosten der Spitäler werden anhand der Fallkostenpauschale miteinander verglichen. Jede Behandlung wird mit einer Pauschale vergütet, die jeweils unter dem Durchschnitt aller Behandlungskosten aller Spitäler berechnet wird (40. Prozentrang). Die Preise werden dadurch automatisch gedrückt, weil sich die Vergütung an der günstigeren Behandlung orientiert. Das zwingt die Spitäler auch dazu, ein eigenes Profil als Dienstleistungsbetrieb zu entwerfen. Dies, so das Kalkül, würde Investitionen fordern und nach einer Umbruchphase dazu führen, dass die nicht konkurrenzfähigen Spitäler und Dienstleister eingingen. Die mit der Fallkostenpauschale erhobenen Zahlen bevorteilen die Privatspitäler systematisch, da diese unabhängiger von der Grundversorgung wirtschaften können und sich auf vermögende Patient_innen und rentable Eingriffe konzentrieren. Dazu kommt eine systematische Unterfinanzierung von Investitionen, was auch öffentliche Spitäler dazu zwingen soll, mit privaten Investor_innen zusammenzuarbeiten, um Neubauten oder Anschaffungen zu finanzieren. Die Spital-CEOs haben die Entfremdung der Angestellten durch weitere Rationalisierung und Flexibilisierung erhöht. Strukturen, Material und die Prozesse im Spital werden verändert, die Pflege und die Arbeitsbedingungen verschlechtern sich. Auf diese Bedingungen wirkt die Corona-Krise wie ein Brandbeschleuniger. Die Einführung der Fallkostenpauschale hat die Gesundheitskosten also nicht gesenkt, sondern hat im Wesentlichen die Privatisierung vorangetrieben und die Arbeitsbedingungen prekärer gemacht.
2. Die Qualität in der medizinischen Betreuung
Die Fallkostenpauschalen sollten auch die Qualität erhöhen, indem mit ihnen transparente Kriterien erfasst werden sollten. Tatsächlich wird heute eine Vielzahl von Kriterien erfasst, sei es als Teil der Fallkostenabrechnung, als internes Qualitätsmanagement oder als externe Zertifizierung. Dazu kommen besonders in den letzten Jahren auch Befragungen der Patient_innen, die insbesondere vermögende Gesundheitskund_innen nach ihrer Zufriedenheit fragen sollen. Sie ähneln darum eher Hotelfragebögen und klammern wichtige Themenfelder aus. Auch die Pfleger_innen und Ärzt_innen wollen qualitativ gute Arbeit leisten. Nur werden ihre Kriterien für qualitativ gute Arbeit nicht beachtet, sondern von Wirtschaftlichkeitszielen überlagert. Gleichzeitig ist der Anspruch, gute Versorgung, soziale Betreuung und Pflege zu leisten ein oder der wichtigste Motivator für Angestellte. Die systematischen Probleme, durch eigenen Einsatz etwas zu kompensieren und den eigenen Ansprüchen zumindest ansatzweise zu genügen, führt oft zu zusätzlicher, oft unbezahlter Arbeit. Kein Wunder, denn die Konsequenzen bei fehlender Qualität sind schnell lebensgefährlich. Qualitativ gute Pflege zu leisten ist ein wichtiger positiver Scharnierbegriff und die gängigen Qualitätsbegriffe zeigen, wieso es systematisch schlecht läuft.
3. Spitalschliessungen und staatliche Steuerung
Die Kantone haben über so genannte Spitallisten die längerfristige Kontrolle über das Gesundheitsangebot in ihrem Kanton. Mit deren Einführung wurden als erster Schritt private und öffentliche Spitäler gleichgestellt. Spitallisten sind potenziell auch ein Instrument für Kürzungen. Einzelne Spitalschliessungen wurden bis jetzt in der Regel auf fehlende Wirtschaftlichkeit, Schwierigkeiten bei der Sicherstellung von Qualität und den Fachkräftemangel geschoben und nicht verordnet. Doch der anhaltend hohe finanzielle Druck kann durchaus dazu führen, dass die Kantone mittels Spitalliste selbständig Spitäler schliessen werden. Im Kanton Zürich tritt unter SVP-Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli nach 10 Jahren 2023 eine neue Spitalliste in Kraft. Der Trend ist klar: Die Spitäler in den Zentren sollen die anspruchsvollen Eingriffe abwickeln, Regionalspitäler in ländlichen Gebieten und in der Agglomeration sollen geschlossen werden. Rund die Hälfte der Spitäler in der Schweiz dürfte in den Fokus rücken. In den letzten 20 Jahren gab es auch eine Verschiebung von stationärer hin zu ambulanter Pflege, mit der ebenfalls Kosten gespart werden konnten. Im ambulanten Bereich ist die Umgestaltung noch nicht so stark fortgeschritten. Arztpraxen kennen z.B. noch keine Fallkostenpauschalen. Es ist wohl eine Frage der Zeit bis auch der ambulante Bereich von SwissDRG nach Fallpauschale normiert wird und ein gnadenloser Konkurrenzkampf das Angebot ausdünnen soll.
Die Debatten um die Gestaltung der Gesundheitsversorgung waren auch schon vor Corona sehr politisiert. Der Notstand der Arbeitsbedingungen der Pflege wird z.B. immer noch als Pflegenotstand bezeichnet – obwohl die Hauptgründe Lohn, Stressbelastung, geforderte Flexibilität und fehlende Vereinbarkeit mit dem Privatleben klar machen, wieso der Nachwuchs fehlt. Es bleibt zu hoffen, dass nach der unmittelbaren Belastung Organisierungs- und Kampfbewegungen zunehmen werden und die revolutionäre Linke diese unterstützen und politisierend auf sie einwirken kann. Es wäre aber eine Überschätzung der eigenen Kraft, wenn wir uns anmassen würden, diese Kämpfe hervorrufen oder auslösen zu können. Wir können jedoch schon heute schon darüber zu diskutieren, wie wir in der Propaganda anschlussfähig sind. Die drei hier behandelten Themenfelder sind Beispiele für verallgemeinerte, bedeutsame Themen der Angestellten. Sie zeigen gleichzeitig, dass der Kampf um bessere Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen auch zwangsweise ein politischer Kampf sein muss.
aus: aufbau 105