Während der Olympischen Spiele kochte in den bürgerlichen Medien einmal mehr die Diskussion um trans Athlet_innen auf. Hinter den vermeintlichen Fragen nach sportlicher Fairness verbirgt sich in vielen Fällen eine rechte Symbolpolitik.
(az) Jedem Sport muss der Spagat zwischen einem durch Training erreichbaren Fortschritt und den bei Geburt mitgegebenen Vorteilen gelingen. Dazu gibt es unterschiedliche Vorgehen. Bei den Radprofis geschieht dies beispielsweise durch die Regulierung des berüchtigten Hämatokritwerts, der Anteil der Blutzellen im Blut. Je höher deren Anteil, desto besser funktioniert der Sauerstofftransport und desto höher ist damit das Leistungspotenzial. Der Wert lässt sich auf natürliche Weise erhöhen, beispielsweise durch Höhentraining. Er lässt sich aber auch durch Doping wie EPO steigern. Aufgrund von letzterem entschied man sich beim internationalen Radsportverband zu einem Maximalwert von 50 Prozent. Wer darunter ist, gilt als sauber und darf am Wettbewerb teilhaben, wer darüber liegt, gerät unter Dopingverdacht und wird ausgeschlossen.
Als Athlet_in will man dem vorgegebenen Maximalwert möglichst nahe kommen. Der antizipierte Hämatokritwert ist jedoch willkürlich gewählt. Bei den nordischen Skidisziplinen liegt er bei beispielsweise 51.5 Prozent, während andere Sportarten ganz auf eine vorgegebene Grenze verzichten. Doch was, wenn man aufgrund von Geburt einen höheren Wert besitzt? Im Langlauf reagierte man beispielswiese lange Zeit mit Ausnahmegenehmigungen, was zu einer Flut merkwürdiger Anträge führte. In der Leichtathletik hingegen gibt es einen Blutpass, der durch wiederkehrende Messungen abnormale Veränderung feststellen soll, und so individueller funktioniert.
Die damit einhergehende Frage, welche Vorteile als fair gelten und welche nicht und wie Grenzen zu definieren sind, ist oft abhängig von der politischen Geschichte der verschiedenen Sportarten. Im Radsport mit seiner bis vor wenigen Jahren herrschenden westlichen Dominanz wurden die Besonderheiten von Ländern und Regionen, in denen Menschen von Geburt auf einen höheren Hämatokritwert besitzen, beispielsweise nicht berücksichtigt, während der Leichtathletikverband anders damit umgehen muss.
Gleiche Voraussetzungen?
Doch selbst wenn man die institutionalisierten Ungleichheiten überwindet, bleibt die Frage schwierig, was eigentlich faire Grundvoraussetzungen sind. Man könnte beispielsweise auch darüber diskutieren, welche Rolle die Länge der Beine spielen. Wer von Geburt an schneller rennen oder höher springen kann, wird in so manchen Sportarten bevorteilt sein – selbst hier sind allerdings die Voraussetzungen schon längst nicht mehr nur biologisch bestimmbar. Wer in seiner Jugend davon träumt, irgendwann Profi zu werden, lässt sich heute präzise voraussagen, wie gross man wird, um notfalls durch operative Tricks noch einige Zentimeter hinzuzugewinnen.
Allerdings wird gegenwärtig nicht um die Länge der Beine gestritten, sondern um Werte, die gesellschaftlich mit Bedeutung aufgeladen sind. Darunter fallen vor allem die Testosteron-Werte und vergleichbare Dinge, die in der öffentlichen Wahrnehmung mit Geschlechterfragen verbunden werden. Als die namibische Sprinterin Christine Mboma an den diesjährigen olympischen Spielen beispielsweise Silber im 200-Meter-Lauf gewann, forderte der ehemalische polnische Sprinter Marcin Urbas vom olympischen Verband, dass Mboma nachweisen müsse, dass sie tatsächlich eine Frau sei. Und auch bei der neuseeländischen Gewichtsheberin Laurel Hubbard, die sich acht Jahre zuvor einer Geschlechtsumwandlung unterzog, gab es etliche Stimmen, die im Namen der Fairness einen Ausschluss forderten – die Diskussion erübrigte sich, als Hubbard nach drei Fehlversuchen ausschied.
Wie stark ein natürlich erreichbares Testosteronlevel allerdings tatsächlich zu einer Leistungssteigerung führt, bleibt umstritten. Einige sehen darin einen uneinholbaren Vorteil und fordern deswegen vor allem im Frauensport den Ausschluss jener mit zu hohen Werten. Gleichzeitig legen sportwissenschaftliche Untersuchungen über den Testosteronwert von Spitzenathlet_innen nahe, dass der Zusammenhang in vielen Sportarten geringer ist als vermutet, und dass der entsprechende Versuch, Personen aufgrund ihrer von Natur aus hoher Werte auszuschliessen, sportmedizinisch nicht zu rechtfertigen ist.
Das Problem, das oft keines ist
In einer besseren Gesellschaft könnte man nun nüchtern darüber diskutieren, was die Voraussetzungen für einen ‚fairen’, interessanten und zugleich den Nachwuchs zur Teilnahme motivierenden Wettkampf sind. Vielleicht wäre das sogar eine spannende Debatte, mit der sich künftige kommunistische Zeitungen füllen liessen. Heute allerdings dient die Frage, wer wo teilnehmen darf und wer nicht, vor allem als Plattform für einen reaktionären Kulturkampf von rechts, der meist auch nicht im Sport, sondern im Feuilleton ausgetragen wird.
Exemplarisch hierfür schrieb der ehemalige Weltwoche Redaktor Rico Bandle für die Sonntagszeitung im Juli einen Leitartikel über die vermeintliche Macht der Extrempositionen. Unter anderem argumentiert er, dass Athletinnen, die eine Transition hinter sich haben, den Sport kaputt machen, weil sie unfaire Voraussetzungen besitzen und so Errungenschaften der Gleichstellung und Frauenförderung zunichte machen – letztere These ist typisch für die rechten Angriffe, denn die Argumentation zielt fast immer auf den Frauensport: Während bei Hubbard der Aufschrei gross war, entstand um den amerikanischen Duathlon-Profi Chris Mosier beispielsweise nie eine auch nur annährend vergleichbare Debatte, obwohl beide eine Transition hinter sich haben und sich beide an der Weltspitze ihrer Sportarten bewegen.
Die von Bandle aufgeworfenen Fragen sind allerdings nicht so gross und tiefgründig wie sie inszeniert werden. Die bisher (wenigen) Studien zur Leistungsfähigkeit von Medikamenten einnehmenden trans Personen legen beispielsweise nahe, dass die Vorteile in verschiedenen Bereichen oft geringer sind als vermutet. Eine Studie mit amerikanischen Militärangehörigen kam beispielsweise zum Schluss, dass sich die Leistungsfähigkeit von trans Frauen zwei Jahre nach dem Beginn einer Hormontherapie jener von cis Frauen in vielen Bereichen annähert, unter anderem, weil Testosteronhemmer auch den Hämoglobinspiegel senken. Was bleibt ist ein überschaubarer Vorteil im Kraftbereich, der sich, nebenbei bemerkt, auch in umgekehrter Richtung zeigte: trans Männer waren zu durchschnittlich mehr Sit-ups fähig als die mit ihnen verglichenen cis Männer.
Wie verlässlich solche Studien sind und inwieweit daraus allgemeingültige Schlüsse für verschiedene Sportarten gezogen werden können, sei dahingestellt. Doch selbst wenn der Kraftvorteil grösser wäre, ist dieser alleine nur in wenigen Sportarten der einzige Faktor für den Erfolg. Abgesehen davon bildet der vom Durchschnitt abweichende Startvorteil auch bei vielen cis Personen überhaupt erst das Einstiegsticket in die Profikarriere. Was in welcher Sportart letztlich tatsächlich unfair ist, bleibt damit zwar eine offene Frage, die vermeintlichen Probleme rund um die Transition sind allerdings bei genauem Blick nur selten die grösste Sorge.
Rechter Kulturkampf
In ihrem Versuch, auf dem Rücken von trans Sportler_innen ein reaktionäre Agenda durchzusetzen, zaubern die rechten Kräfte oft die absurdesten Beispiele hervor. Die Sonntagszeitung untermauerte ihr Argumentation beispielsweise mit den Tiefen des US-amerikanischen College Sports. Bebildert ist Bandles Artikel mit einem Foto von Gabrielle Ludwig, die 2012 und 2013, fünf Jahre nach dem Beginn ihrer Hormontherapie, als 51-jährige Frau nochmals für zwei Saisons für ein kalifornisches Hochschul-Basketball Team antrat. «Ist das fair?», lautet dazu die rhetorische Frage in der Bildunterschrift. Der von Bandle eingebrachte «gesunde Menschenverstand» scheint die Antwort zu wissen, sodass der Artikel die Antwort gar nicht mehr liefern muss. Misst man Fairness allerdings daran, wie die Chancen stehen zu verlieren, dann ist das Beispiel nicht sonderlich gut gewählt. Ludwig war zwar trotz ihres Alters eine gute Spielerin, die aufgrund ihrer Grösse eine besonders gute Rebounds Statistik aufwies. Überragend war sie allerdings nicht: In ihrer zweiten und aktiveren Saison erreichte ihr Team nicht einmal die Playoffs – eine grosse Ausnahme eines Teams, dass drei Jahre zuvor und drei Jahre danach ununterbrochen weiter kam.
Wieso aber kommt die Sonntagszeitung mit zehn Jahren alten Sportgeschichten aus einem unbedeutenden amerikanischen College? Zumal dessen Niveau auf den Schweizer Fussball übertragen im Verhältnis zu den besten Athlet_innen etwa auf der Höhe der ersten oder zweiten Liga liegt. Die Antwort ist einfach: Statt sich tatsächlich für sportliche Fragen zu interessieren, übernimmt man auch hierzulande die aus den USA stammenden Schauermärchen, die von Zeitungen und auf sozialen Medien seit einigen Jahren für ihren konservativen Kulturkampf herumgereicht werden.
Von der Lüge zum Gesetz
Die dabei portraitierten Beispiele sind oft besonders doof und meist auch falsch. In Arizona beklagte sich 2019 beispielsweise die junge College Basketballerin Grace Waggoner vor einem bundesstaatlichen politischen Ausschuss darüber, dass ihr Team erstmals seit Jahren verlor, weil ihre Gegnerinnen eine trans Athletin eingesetzt habe. Später stellte sich heraus, dass Waggoners Gegnerinnen zwar keine Athletin mit Transition im Team hatten, jedoch eine Spielerin mit kurzen Haaren. Andere konservative Kräfte beklagten sich über eine angebliche trans Basketballerinnen, die durchschnittlich pro Spiel 23 Punkte mehr als ihre Mitspielerinnen erziele. Auch diese Spielerin gab es nie.
Die Anzahl solcher falscher oder irreführender Beispiele ist unendlich. Doch unabhängig vom Wahrheitsgehalt ziehen solche Märchen reale Konsequenzen nach sich. Waggoners medial inszeniertes Wehklagen führte beispielsweise zu einem (von Gerichten bis heute blockierten) bundesstaatlichen Gesetz, das trans Athletinnen die Teilnahme am Frauensport auf Schul- und Universitätsniveau verbieten soll. Auch andere Bundesstaaten zogen nach. Florida erliess im Juni den «Fairness in Women’s Sports Act», ein Gesetz, das trans Athletinnen an Colleges und Highschools bei Wettkämpfen von cis Frauen die Teilnahme verbietet. Bei diesem konservativen Backlash bleibt es leider nicht bei den amerikanischen Provinzpossen. Auch in Europa versuchen konservative Kräfte seit einiger Zeit, im Namen der Frau den rechten Kulturkampf zu führen. Und so manche Sportverbände denken seit einiger Zeit über vergleichbare Einschränkungen nach. Als erster Schritt dagegen hilft es meist, sich nicht auf den «gesunden Menschenverstand» zu verlassen.
Aus: aufbau 106