(raw) Nicht nur in Zürich, sondern auch in Winterthur wird die Schlinge der kapitalistischen Urbanisierung immer enger. Es drohen Wohnungsnot und steigende Mieten – und die Räumung jahrzehntealter Besetzungen.
In der Stadt Winterthur und Umgebung gibt es bis anhin noch sieben besetzte Häuser, diese werden seit mehreren Jahrzenten selbstverwaltet und auf eigene Kosten in Stand gehalten, bewohnt und mit diversen unkommerziellen und politischen Veranstaltungen bespielt. Alle Häuser haben eins gemeinsam: Sie wurden vor über 40 Jahren von Bruno Stefanini erworben – er sammelte nicht nur Kunst, sondern auch Immobilien. Bruno Stefanini liess diese Häuser, wie viele seiner anderen Liegenschaften zerfallen. Dies aus Absicht, sein «Geschäftsmodell» bestand darin, verhältnismässig günstige Mieten einzustreichen, dafür grundlegende Instandhaltung auf Jahrzehnte aufzuschieben. Seit Stefaninis Tod und einem jahrelangen Erbstreit über seinen Nachlass gehören nun tausende Liegenschaften in der ganzen Schweiz der «Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte» (SKKG), davon befinden sich Winterthur ungefähr 1700 Immobilien. Seine Tochter Bettina Stefanini, welche die neue Stiftungsratspräsidentin der SKKG ist, möchte nun die von ihrem Vater umschifften Kosten der Renovation auf die Mieter_innen abschieben. Es wird nun zwar endlich saniert, doch anschliessend die Mieten erhöht. Es ist klar, dass unter der Chiffre «bezahlbarer Wohnraum» etwas anderes verstanden wird, als was die SKKG anbietet – so verdrängt die SKKG an vielen Orten heutige Bewohner_innen aus ihren langjährigen Wohnungen. So kostet beispielsweise eine 3.5-Wohnung in der Altstadt nun das dreifache.
Auch die sieben besetzten Häuser sind Eigentum der SKKG. Anfangs Juli 2023 wurde den Besetzer_innen mitgeteilt, dass drei davon Ende 2025 gewaltsam geräumt werden sollten. Dazu gehören die «Gisi», die seit 26 Jahren besetzt ist, das «Sanatorium» besetzt seit 2004 und das Haus an der Schaffhauserstrasse seit 2003 besetzt. Die Räumungsandrohung betrifft diejenigen Häuser, welche am längsten besetzt sind. Mit den anderen vier Häusern sollen kurz – bis mittelfristige Nutzungsverträge ausgehandelt werden. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass die vorgeschlagenen Verträge der SKKG eine Farce sind. Sie sind repressiv und profitorientiert und nicht an der Notwendigkeit orientiert, in Winterthur günstigen Wohnraum oder kulturellen und politischen Freiraum zu schaffen. Wie konnte man es auch anders erwarten!
Schöner Wohnen ohne Kapitalismus
In Winterthur wird seit Jahrzehnten besetzt und damit auch um den Erhalt von günstigem Wohnraum gekämpft. Einige der ehemals besetzten Häuser gingen dafür den Weg der Legalisierung und konstituieren sich nun als Genossenschaft oder wurden im Baurecht übernommen. Nebst dem Raum für Organisierung, politischem und kulturellem Austausch bieten sie so günstigen Wohnraum an zentralen Standorten, der auch in Winterthur immer schwieriger zu finden ist. So beispielsweise an der Steinberggasse, beim Teuchelweiher und in Veltheim, wo sich der Infoladen «Rabia» befindet. Diese Projekte zeigen in einer brutalen Deutlichkeit auf, wie günstig das Wohnen sein könnte, wäre der Wohnraum nicht Teil kapitalistischer Verwertungslogik. So belaufen sich die Kosten pro Zimmer auf 250 bis 300 CHF pro Monat. Damit werden Umbauten und die Instandhaltung der Gebäude finanziert, wobei diese Tätigkeiten von entsprechenden Facharbeiter_innen ausgeführt werden. Aktuell wird in Winterthur für ein Zimmer von ähnlichem Ausbaustandard und ähnlicher Lage das drei- bis fünffache an Miete verlangt. Weder sind die aktuellen überhöhten Preise «normal», noch waren sie es vorher jemals. Man muss immer wieder deutlich machen, dass die Miete der Ausdruck davon ist, dass Personen damit Geld verdienen, Immobilien zu besitzen und Menschen in ihren Räumen wohnen zu lassen. Der Vermieter und die Vermieterin ist nichts anderes als die Fabrikbesitzerin und der Fabrikbesitzer – sie verdienen an der Arbeit und am Leben anderer. In diesem Sinne erstaunt es wenig, dass sich die SKKG in ihrem neuen Aufwertungskurs nun auch den verbleibenden besetzten Häusern «annehmen» will – schliesslich wird durch die Besetzung Profit entzogen und der Geldmacherei durch Besitz von Immobilien einen Riegel geschoben. Das Besetzen von Häusern ist somit nicht nur die Eroberung von günstigem Wohnraum, es ist auch ein Widerstandsakt gegen die kapitalistische Verwertung von diesem.
Aufwertung heisst Aufstandsbekämpfung
Die besetzten Räume und Zentren bieten nicht nur günstigen Wohnraum, sondern auch Platz für antikapitalistische Projekte und politische Organisierung. So muss die Repression gegen diejenigen, die sich gegen die kapitalistische Urbanisierung wehren und Häuser besetzen, mehrdimensional gedeutet werden. Für den Staat steht einerseits im Mittelpunkt, die kapitalistische Verwertungslogik zu ermöglichen, also all den Stefaninis dieser Welt «ihre» Besitztümer wieder zur Verfügung zu stellen. Andererseits ist Aufwertung auch Aufstandsbekämpfung. «Aufwertung» meint nicht nur die Sanierung von bestehendem urbanem Raum, sondern im Rahmen des weiteren Begriffs der «kapitalistischen Urbanisierung» auch die Neuplanung von Stadtteilen und Strassenzügen wie in Winterthur beispielsweise die Archhöfe oder in Zürich die Europaallee. Dabei spielt nicht nur eine vermeintlich schicke Architektur eine Rolle, sondern auch die potenzielle Nutzung der Menschen, die sich später in diesen urbanen Räumen bewegen. Vielleicht wäre es zutreffender von einer Nicht-Nutzung zu sprechen, denn bei der Planung von neuen Stadtteilen und Quartieren hat die Kontrolle von Menschengruppen und die Aufstandsbekämpfung eine hohe Priorität, wie Leitlinien der Stadt Zürich für Architekturbüros und Landschaftsplaner_innen zeigen. Dabei geht es um vermeintliche Details wie die Platzierung von Abfalleimern und Sicherung von Containern, aber auch um Installationen, damit Menschen nicht auf Parkbänken schlafen können. Weiter sind Konzepte zur Beleuchtung und die Integration von Überwachungskameras sowie Vorgaben zur Breite von Einfahrten, damit beispielsweise Fahrzeuge der Polizei Durchgang finden, bauplanerisch relevant. Die Städte werden im Rahmen der kapitalistischen Urbanisierung also nicht nur dahingehend aufgewertet, dass überschüssiges Kapital reinvestiert wird und mehr Profit durch höhere Mieten zu erzielen, sondern auch in die Investition in eine «sichere» Stadt. Denn sichere Städte sind attraktiv für internationales Kapital. Es ist also kein Zufall, dass die Archhöfe und Neuhegis dieser Welt so aussehen wie sie aussehen – sie sind Teil einer repressiven Architektur, die mit dem Begriff «Aufwertung» daherkommt. Besetzte Häuser widersprechen diesem Anspruch auf Sicherheit und Kontrolle diametral. Denn, wie oben erwähnt, entzieht man dadurch nicht nur Wohnraum der Profitlogik, sondern auch der Überwachung und Kontrolle. Besetzte Häuser haben nicht nur eine Funktion im Rahmen von sozialem Wohnen, sie sind nicht nur Raum für unkommerzielles Beieinandersein, sondern auch Terrain für antikapitalistische und revolutionäre Organisierung. Der Angriff auf besetzte Zentren ist demnach nicht nur Repression, die durch Marktlogik legitimiert wird, sondern auch durch den Überwachungsanspruch des bürgerlichen Staates.
Die letzte Bastion? Ein Denkanstoss
Als zu Beginn dieses Jahres das besetzte Koch-Areal in Zürich geräumt wurde, wurde dies in den bürgerlichen Medien als Zäsur gehandelt. Eine Ära sei vorbei, eine Ära der richtig grossen Besetzungen, wo mit verschiedenen Wohnformen experimentiert und Grossanlässe organisiert werden konnten. Tatsächlich hat die Stadt Zürich eine lange Geschichte grosser besetzter Zentren und ein Ersatz für das Koch-Areal steht ausser Sichtweite, da brachliegende Areale in immer höherem Tempo verwertet werden. Die Deutung als Bruch in der Geschichte soll hier jedoch nicht weiter verfestigt werden, denn diese Geschichte ist nicht ohne Perspektive, blickt man beispielsweise auf die neue Besetzung der Post in Wipkingen. Gleichzeitig muss aber auch festgehalten werden, dass sich europa- und schweizweit eine deutliche Tendenz zur Auflösung besetzter Häuser zeigt. Die Repression dagegen war und ist in den Städten wie Basel, Luzern und Genf enorm und hat zu einer grossen Verdrängung antikapitalistischer Projekte und revolutionärer Organisierung geführt. Dieser Angriff steht nun auch Winterthur bevor und man fragt sich, ob man Winterthur als letzte Bastion erwähnen müsste, würde man in 50 Jahren versuchen die Geschichte der besetzten Häuser in der Schweiz zu schreiben. Im Vergleich zu den anderen Schweizer Städten waren die besetzten Häuser in Winterthur lange unangetastet, was sich auch in ihrer langjährigen Existenz zeigt. Vielleicht ist es überhöht und übereilt, gleichzeitig könnte es genau jetzt der Moment sein, um die Verteidigung des Häuser-Besetzens stärker aufzunehmen, weil es zu einem späteren Zeitpunkt auch zu spät sein könnte. Vielleicht ist es jetzt der Zeitpunkt, um mit der gleichen Vehemenz, wie wir militante, unbewilligte Demos als Ausdruck unserer Politik verteidigen, die Praxis des Besetzens zu verteidigen. Weil das besetzte Haus mehr ist als nur Raum für subjektive Entfaltung, weil es ein Widerstandsakt ist gegen die kapitalistische Urbanisierung und ihrer Repressionsmechanismen.