Fabrikgesellschaft beleuchtet die Industrieregion Baden, Winterthur und Zürich in den Jahren 1937-67. Die Maschinenindustrie war einst sehr wichtig, inzwischen nur noch Erinnerung, doch konstituierendes Element der Klassengesellschaft, in der wir leben. Detailreich, hintersinnig und präzise nimmt Andreas Fasel diese Zeit unter die Lupe.
«Unberechtigten ist der Eintritt in das Fabrik-Areal verboten», mit diesem Schild beginnt das Buch Fabrikgesellschaft, das antritt, die vernachlässigte Geschichte des Arbeitsfriedens zu beleuchten, ins Innere des Geschehens zu schauen, die Mechanismen der Integration sowie des Ausschlusses der Arbeiter_innenschaft zwischen 1937 und 1967 zu betrachten. Der Arbeitsfrieden, die Tatsache, dass die Gewerkschaft SMUV der Metallarbeiter (die männliche Form ist bewusst gewählt) ab 1937 Arbeitskampfmassnahmen unterband, ist gut bekannt. Hingegen wie das umgesetzt wurde und wieso er sich so lange halten konnte, ist wenig erforscht. Diese Lücke schliesst das Buch mit zahlreichen Anekdoten und Beispielen aus dem Innenleben der Fabrikgesellschaft, so dass es nie zäh oder langweilig ist. Angesichts der Tatsache, dass die Archivmaterialen aus der Firmenleitung stammen, bedeutet das historische Wühlarbeit, die Suche nach Briefen, Gedichten, protokollarischen Randbemerkungen, um zwischen den Zeilen aktiven und passiven Widerstand auszumachen, Anzeichen für Spaltung, Integration oder Hinnahme.
Aus der Geschichte lernen
«Ich gehöre ja zu den Menschen, die glauben, aus der Geschichte lernen zu können», sagt Fasel im Gespräch. Also wollen wir lernen. Der Aufbau wird Veranstaltungen mit dem Autor durchführen und über die Vergangenheit sprechen, um die Gegenwart verstehen zu können.
Für Fasel stand der biografische Bezug am Anfang des Projekts. Im Winterthur seiner Kindheit war die Metallindustrie noch dominant gewesen und das Verscherbeln der Sulzer in den 90ern hart und spürbar. Als Historiker aus der Rationalisierungs-Forschung fiel ihm ausserdem auf, dass die Nachkriegszeit in der Forschung fehlte. Man spreche gerne und viel von Taylor und den 20- und 30ern, was einfach zu kurz greife, in der Schweiz seien die 50er Jahre relevant. Das Friedensabkommen und die sie begleitenden Massnahmen der Sozialpolitik durch die Betriebe ermöglichten die Durchsetzung der Rationalisierung. Gleichzeitig, aber das ist nicht ungewöhnlich, wurde ab 1947 billige, unqualifizierte Arbeitskraft importiert – vorzugsweise die besonders billigen jungen Italienerinnen. Beide Prozesse, die Rationalisierung wie die Nicht-Modernisierung, veränderten die Arbeitsbedingungen in der Fabrik. Drittens liegt ein politisches Anliegen dem Buch zugrunde. Die konservative Seite bezieht sich positiv auf die 50er Jahre. Die 60er und besonders die 70er stehen hingegen für den sozialen Aufbruch und Bewegung. Wer sich für diese interessiert, muss hinschauen, was dazu führte. So ist es kein Wunder, dass die jungen Arbeiter_innen der 60er das nicht mehr mitmachten. Die Rebellion gegen die Enge der Gesellschaft war nicht nur eine Rebellion an den Universitäten, in den Fabriken war sie überlebensnotwendig. Das kann dieses Buch zeigen, auch wenn es 1967 endet.
Dienen statt verdienen
Behandelt werden drei Fabriken, die Brown Boveri in Baden, die Maschinenfabrik Oerlikon und die Sulzer in Winterthur. Gemeinsam ist ihnen, dass sie an ihrem Standort sowohl politisch als auch ökonomisch dominant waren. Sie gingen die Rationalisierung, also auch die Veränderung der Arbeitsorganisation, leicht unterschiedlich an, doch taten es alle drei auf Basis des Arbeitsfriedens einerseits und dem Import billiger Arbeitskraft aus Italien andererseits. Um den Frieden zu erhalten, mussten sie gewisse «Gegenleistungen» erbringen, wobei sie Lohnerhöhungen kategorisch ausschlossen. Obwohl es eine Zeit des akuten Arbeitskräftemangels war. Arbeiter_innen wechselten die Arbeitsstelle ohne Bedenken, wenn ihnen ein besseres Angebot begegnete. Das Management musste die Löhne erhöhen, wehrte sich aber erfolgreich gegen kollektive Lohnerhöhungen. Denn Geld, so hiess es, sei nicht so wichtig!
Um die Fluktuation der Arbeitskräfte einzudämmen, wurden einigen Wohnungen zur Verfügung gestellt, die an den Arbeitsvertrag gekoppelt waren. Dies war nicht nur eine geeignete Massnahme, die Arbeitskräfte zu binden, es war auch eine prima Investition: die Häuser konnten sozusagen «gratis» aus dem akkumulierten Kapital der Betriebs-Pensionskassen gebaut werden. Die Italiener_innen hingegen wurden unter sehr bedenklichen Bedingungen in Baracken untergebracht.
Ausserdem pflegte man in den Fabriken den Bereich des Sozialen, neben Firmenanlässen auch die Soziale Arbeit. Deren repressive und erzieherische Funktion ist gut sichtbar, so wurden vorzugsweise Ehefrauen von Facharbeitern auf sparsames Wirtschaften gedrillt. Nichts desto trotz waren diese Fabriken die Avantgarde der sozialen Betreuung und die einzige «Hilfe», die zu erhalten war. Oder aufgenötigt wurde. Das erklärte Ziel der Sozialarbeit in Baden bestand gemäss Hauszeitung darin, die Hindernisse zu beseitigen, «die sich ungünstig auf Arbeitsfreude und Arbeitsleistung auswirken». Die Reproduktion der Ware Arbeitskraft war der Industrie also ein ernsthaftes Anliegen, sie sollte, versteht sich, zu tiefem Lohn geschehen. Bei mangelhaftem Resultat war die Schuldzuweisung einfach: Die Ehefrau, auf keinen Fall der tiefe Lohn. Blumig sprach die Betriebsführung vom Betrieb als Familie (oder im Falle der MFO sogar als Bienenstock), und es war genau das: Eine Zwangsgemeinschaft, in welcher sich nicht alle gleich wohl fühlten, indessen strikt verlangt wurde, dass man sich wohl fühle. Wirkliche Massnahmen, damit man sich wohlfühlen könnte, wurden allerdings nicht in Betracht gezogen. Beispielsweise bediente die Kantine der BBC 1962 nur die Festangestellten, die Arbeitsmigrant_innen, gut 45% der Belegschaft, gehörten nicht dazu.
MRA: Moral Re-Armement
Was zum Teil des Buchs überführt, der die Ideologie des Managements seziert und überraschend viele Details offen legt, die die Antifa interessieren könnten. Denn die Theorien basierten auf korporatistischen Betriebsführungstheorien des Nationalsozialismus, wurden dann ab den 50er Jahren durch die Human Relations aus den USA ergänzt.
Diese Theorien können sehr einfach als frei erfunden und liberales Geschwätz demaskiert werden, als «Gutenacht-Geschichten, die sich die Patrons gegenseitig erzählen, mit quasi religiösem Charakter», so Fasel. Bei der MFO war das Kader Mitglied der Sekte «Moralischen Aufrüstung» (MRA), einer evangelikalen Freikirche, die 1938 in der Arbeitgeber-Zeitung zum Besten gab: «Unter der Führung Gottes werden Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu einer Einheit zusammengeschmiedet.» Die anderen Betriebe schickten das Kader an die jährlichen MRA-Konferenzen in Caux, zu welchen auch der SMUV eingeladen war. Die MRA gab Weiterbildungen, Kaderkurse und sie teilte der ETH mit, was zu vertreten sei, war also die wichtigste Instanz der Ideologiebildung. Allerdings nennt man ihre Produkte völlig zu Unrecht «Wissenschaft».
Mit Human Relations wurden Schritte unternommen, die Arbeitskräfte auf den richtigen Weg zum Glück bringen sollten, heisst: zu Fleiss und Selbstaufgabe, an erster Stelle für die Fabrik, an zweiter Stelle für die «Heimat». Es waren lauter ästhetische Massnahmen vorgesehen, die keine materiellen Konzessionen beinhalteten. Beispielsweise wurden die Chefs aufgefordert, freundlicher zu grüssen. Oder man befasste sich mit den «Schädigungen durch unkontrolliertes Laufenlassen des Radios». Das mag harmlos tönen, es schuf aber die Atmosphäre, die die Fabrik und das Leben in der Arbeiter_innensiedlung prägte. Abweichung war schnell ausgemacht und die war lohnrelevant. Alle drei Fabriken hatten undurchsichtige Lohnsysteme, welche das erwünschte Verhalten belohnten und das unerwünschte abstraften.
Die Möglichkeiten des Widerstandes waren indessen sehr begrenzt. Er drückte sich zum Beispiel im Vorschlagkasten aus, dem Briefkasten, den die Betriebsleitungen aufstellten, um sich das Wissen der Arbeiter_innen anzueignen. Die Arbeitskräfte sollten hier gegen eine Prämie Vorschläge zur Rationalisierung der Arbeit einwerfen. Solches entsprach nicht dem Interesse der Arbeiter_innen und wurde alternativ genutzt. Vorzugsweise als Aschenbecher. Die ernst gemeinten Vorschläge beinhalteten hingegen mehrheitlich indirekte Kritik, zahlreiche Massnahmen zur Verbesserung der Sicherheit oder der Arbeitsbedingungen. Diese wurden vom Management im Ordner abgelegt und umgehend verdrängt. Wie human die Relationen auch immer wurden: Die Arbeitskräfte wussten jederzeit, was erlaubt war und was nicht.
An Veranstaltungen am Freitag 23.02.24 in Zürich und am Mittwoch 28. Februar in Basel vertieft der Autor und es besteht die Möglichkeit zu Fragen und zu diskutieren. Denn der Arbeitsfrieden prägt die Schweiz bis heute, auch wenn die Patrons ihn inzwischen aufgekündigt haben.
aus: aufbau 115