Die gegen mich erhobenen Anklagepunkte, nehme ich zum Anlass um heute und hier über Gewalt und Selbstverteidigung zu sprechen. Wenn ich in die Welt rausschaue, sehe ich Kriege, Unterdrückung, Gewalt und Hetze gegen Frauen und genderqueere Menschen. Alle 10 Minuten geschieht ein Femizid weltweit. Wehren wir uns oder fallen aus der Rolle, wird gegen uns gehetzt und wir werden diffamiert, als Gewalttäter_innen, Wilde, Unzivilisierte, Huren, Monster, Genderwahnsinnige usw. Kategorien, die gerade nützlich sind, um Unterdrückung, Gewalt und Krieg zu legitimieren und durchzusetzen.Die Gewalt dieser patriarchalen Strukturen, sagen mir, dass es richtig und heute hoch aktuell ist, sich als FLINTA Selbstverteidigung als politisches, kollektives Mittel anzueignen. Die Jin Jiyan Azadî Bewegung macht es uns vor. Aktuell kämpfen Frauen und genderqueere Personen im Nahen Osten mit Mut und Entschlossenheit an vorderster Front. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, sie zu grüssen und ihnen meine Solidarität auszusprechen.
Was ist die Jin Jiyan Azadî Bewegung?
Am 16. September 2022 starb Jina Masha Amini im Iran in Polizeigewahrsam – ermordet vom iranischen Regime. Spätestens seitdem geht der kurdische Ruf Jin Jiyan Azadî um die Welt. Die Parole „Frauen Leben Freiheit“ trifft auf eine weltweite feministische Bewegung die sich mit „Ni Una Menos“ 2015 in Argentinien und 2018 mit dem feministischen Streik in Spanien formierte. Mit unglaublichem Mut und eisernem Wille kämpfen Frauen und Queers gegen Faschismus, Patriarchat und Kapitalismus.
Die Jin Jiyan Azadî Bewegung, umspannt die Welt und zeigt uns, dass wir ein geteiltes Interesse an einer revolutionären Veränderung der Gesellschaft haben. Dass wir als Genoss_ innen mit gleichen Gründen, mit gleichem Ziel und mit geteilten Werten und Prinzipien voranschreiten.
Denn dieses lebensfeindliche System greift uns alle an; täglich erleben wir, wenn auch auf unterschiedliche Weise, die Gewalt der patriarchalen Strukturen, die physische Gewalt der Polizei und die gewaltförmige Produktionsweise des Kapitalismus – wenn wir uns zusammenschliessen und uns wehren haben wir also nur zu gewinnen.
Der Kapitalismus ist an seine strukturellen Grenzen gelangt und befindet sich in einer tiefen Krise: Kapital kann nur noch gewinnbringend investiert werden, indem der Konkurrenz und der sie vertretenden Staaten Teile des Kuchens entrissen werden. Diese Aggression, die pure Gewalt, die diesem Wirtschaftssystem inhärent ist, zeigt sich immer deutlicher: Kriege sind an der Tagesordnung, Kriege um hegemoniales Machtstreben, Kriege zur Sicherung von Energiekorridoren und -ressourcen.
Wir sehen aber auch, dass der Widerstand stark ist. Wir erkennen, was die Parole Jin Jiyan Azadî bedeutet und wie eng sie mit dem Konzept der Selbstverteidigung verbunden ist. Bei der Verteidigung von Kobanê 2014 haben die Völker in Nord-Ost-Syrien die Erfahrung gemacht, sich selbst zu verteidigen und nicht auf Hilfe von aussen zu hoffen. Und sie machen diese Erfahrung wieder. Vor zwei Wochen, am Mittwoch, dem 27. November starteten die islamistischen Hayat Tahrir al-Sham (HTS) und die von der Türkei angeführte Syrian National Force (SNF) ihre Offensive auf Syrien und Rojava. Während die Assad Armee fluchtartig ihre Stellungen verliess, waren es die Verteidigungseinheiten
der Selbstverwaltung von Nord-Ost-Syrien, die zum Schutz der Bevölkerung in die Gebiete fuhren. In Solidarität mit der Bevölkerung öffneten sie Korridore, um die Menschen herauszuholen, um niemanden im Stich zu lassen.
Natürlich ist es ein historisches Ereignis, dass das syrische Volk das Assad Regime endlich stürzen konnte. Wir dürfen aber nicht glauben, die Schlacht sei zu Ende. Hinter den dschihadistischen Einheiten stehen verschiedene imperialistische Kräfte, an vorderster Front die zweit stärkste Nato-Armee,- die Türkei. Sie greifen nicht nur das kurdische Volk an, sondern das freie und demokratische Zusammenleben aller Völker in Syrien. Dass sich Menschen ihrem eigenen Willen entsprechend organisieren, dass Frauen Freiheit Leben – Jin Jiyan Azadî, soll verhindert werden.
Das Konzept der Selbstverteidigung ist in der Rojava Revolution zentral. Dabei geht es nicht nur um eine territoriale Verteidigung, sondern darum eine Gesellschaft aufzubauen. Und zwar nicht irgendeine Gesellschaft, sondern eine Gesellschaft, die die Menschen zu verteidigen bereit sind, die, Frauen und Queers zu verteidigen bereit sind. Eine Gesellschaft, die das gemeinsame Leben auf diesem einen Planeten, den wir bewohnen, ins Zentrum stellt.
Der gegenwärtige Krieg in Nord-Ost Syrien ist ein Verteidigungskampf für das Leben, der die Koexistenz und die Verbundenheit der Völker verteidigt, ein Krieg gegen den Faschismus. Es ist unerlässlich, dass wir in diesen schwierigen Zeiten an der Seite von Rojava stehen, gegen diese mörderischen Angriffe auf die Strassen gehen, uns mit den unterdrückten Völkern im Nahen Osten solidarisieren und die Errungenschaften der Revolution von Rojava verteidigen und verbreiten.
Wenn wir hier, auf den Strassen von Zürich, also Jin Jian Azadî rufen, dann ist das nicht nur ein Zeichen der internationalen Solidarität, und der Verbundenheit der Kämpfe. Es bedeutet auch, das Konzept der Selbstverteidigung zu stützen. In den Worten der kurdischen Genossinnen: «Wir müssen uns kollektiv organisieren. Wir müssen erkennen, dass wir ein kollektives System der Selbstverteidigung in allen Bereichen aufbauen müssen.“
Das Beispiel der jungen Frauen und genderqueeren Personen aus Rojava ist hoch aktuell. Wenn wir aber uns unsere Geschichte vergegenwärtigen, sehen wir, dass sich das Konzept der Selbstverteidigung durch die Geschichte der Unterdrückten zieht.
Die Suffragetten Bewegung Anfang des 20. Jahrhunderts zum Beispiel machte den Staat als die Instanz aus, die die Ungleichheit institutionalisiert und festigt. Die Suffragetten zogen daraus den Schluss, dass es illusorisch ist, sich unter seinen „Schutz“ zu stellen, sich auf ihn zu verlassen, weil er gerade jene bewaffnet, die uns schlagen.
In den USA der 1960er war Selbstverteidigung für Afroamerikaner_innen ein wichtiges Konzept gegen Polizeigewalt und sicherte Überleben. Die friedlichen Proteste der Bürgerrechtsbewegung wurden von der rassistischen Polizei, lokalen Mobs und dem Ku-Klux-Klan regelmässig brutal angegriffen. Bürgerrechtler_innen wurden bedroht und ermordet. Die Black Panther Party for Self Defense entstand in diesem Klima. Wir können es dem Parteinamen ablesen, es ging darum, die eigene Community zu schützen und sich selbst zu verteidigen. Und auch hier beinhaltet das Konzept, die eigene Seite, die eigene revolutionäre Kultur aufbauen, Infrastruktur zur Verfügung stellen und sich zu bilden.
Gemeinschaften aufbauen, eigene widerständige Kultur praktizieren und bewahren ist Teil des Konzeptes der Selbstverteidigung und auch für queere Personen eine Überlebensstrategie. Auch Stonewall 1969 war ein Riot der Selbstverteidigung, die Verteidigung der eigenen Identität und Kultur. Das Ausleben der eigenen Lebensweisen, der eigenen Identitäten und Sexualitäten und der Zusammenschluss von queeren, nicht normkonformen Menschen wurde und wird gewaltvoll angegriffen.
Wir sehen die historische Bedeutung der Parole Jin Jiyan Azadî – wir beharren darauf, dass wir existieren und kämpfen dafür, dass wir dies auf unsere Art und Weise, also eben in Freiheit- azadî, tun können.
Aus der Behauptung der Identität ergeben sich noch keine politischen Schlussfolgerungen und so geht es, wie gerade schon erwähnt, gleichzeitig auch darum eine Gesellschaft in Selbstverwaltung aufzubauen, eine Gesellschaft, welche die verschiedenen Völker und Religionen umfasst. Noch einmal in den Worten der kurdischen Genossinnen „eine Revolution mit jeweils eigener Farbe, eigener Identität, eigener Sprache und Kultur.“
Dieses Verständnis von Selbstverteidigung lässt sich, wie wir durch die historischen Beispiele gesehen haben, übertragen auf die verschiedenen Kämpfe der Unterdrückten. Die Kämpfe finden mit ihren Besonderheiten in einem spezifischen Kontext statt, aber wir gehen zusammen einen Weg, einen Weg der Selbstverteidigung.
Die Geschichte aller Unterdrückten verläuft in ihrem Befreiungsprozess über den Moment der Selbstverteidigung. In ihm werden wir uns selbst bewusst, werden wir zu
Subjekten und wir verteidigen uns, wir werden tätig und erleben dadurch Handlungsmacht. Wir bauen auf die eigenen Kräfte, vertrauen auf sie, was eine Voraussetzung für einen Befreiungsprozess ist. Die kollektive Selbstverteidigung beinhaltet das Erleben von gemeinsamer Stärke, beinhaltet das Erfahren von Solidarität und zeigt so einen Weg aus diesem lebensfeindlichen System.
In der Selbstverteidigung erleben wir ein Blitzlicht einer möglichen künftigen Gesellschaft. Damit gibt die Selbstverteidigung Hoffnung und Kraft.
Diese Kraft konnten wir 2014 sehen, als zahlreiche junge Frauen aus dem Shengal gegen die mörderischen Banden von Daesh in den Krieg zogen und die Jezid_innen unterstützen sich zu verteidigen. Und wir können es heute sehen, wie sich zahlreiche Jugendliche aus Nord-Ost- Syrien mit Stolz den Selbstverteidigungseinheiten anschliessen und Rojava gegen die türkischen Schergen verteidigen. Denn sie wissen genau, was sie verteidigen.
Es ist an der Zeit, dass auch wir mit Mut, Stärke und Entschlossenheit einen Schritt aus der Defensive wagen. Dabei ist die Solidarität der Boden, von dem aus wir kämpfen, von dem aus wir uns selbst verteidigen: Die Solidarität unter FLINTA, die Solidarität zwischen den Völkern, die Solidarität der internationalen Arbeiter_innenklasse.
Schulter an Schulter
Jin, Jiyan, Azadî